Arbeitszeitverkürzung hat bei VW Jobs gesichert

■ Es stehen heute allerdings deutlich weniger Leute auf der Lohnliste als 1993. Dennoch kann das Modell nicht als gescheitert gelten. Der Vertrag wurde verlängert

Ende 1993 standen bei VW 30.000 Arbeitsplätze zur Disposition. Um Massenentlassungen zu verhindern, wurde die Arbeitszeit auf vier Tage in der Woche heruntergefahren. Betriebsrat und IG Metall waren einverstanden, daß dafür der Lohn um 20 Prozent sank. Was ist geworden aus dem Modell? Wurde die Automobilindustrie zum Vorreiter einer neuartigen Beschäftigungspolitik, die mit Tabus auf allen Seiten bricht?

Eine erste, unternehmensbezogene Bilanz nach gut zwei Jahren VW-Modell muß zunächst ernüchtern. War ursprünglich beabsichtigt worden, durch die Arbeitszeitverkürzung einen Bestand von rund 100.000 Arbeitsplätzen im Unternehmen zu sichern, so sank im Jahresverlauf 1995 die durchschnittliche Beschäftigtenzahl auf 94.000. Bis 1998 sieht die vorläufige Planung gar einen Personalbestand von nur noch 83.000 Beschäftigten vor. Aus dieser Entwicklung auf ein Scheitern des VW-Modells zu schließen wäre allerdings voreilig. Denn vereinbart worden war, den vor allem durch Produktivitätszuwächse bedingten Beschäftigungsüberhang so zu managen, daß auf betriebsbedingte Kündigungen – faktisch Massenentlassungen – verzichtet werden konnte. Eine Bestandsgarantie für die Gesamtheit der vorhandenen Arbeitsplätze war jedoch nicht Gegenstand der Vereinbarung, auch wenn die Vertragsparteien zunächst auf eine derartige Wirkung gehofft haben mögen.

Wenn heute bei VW weiterer Arbeitsplatzabbau über den Vorruhestand, Aufhebungsverträge, die Nichtverländerung befristeter Verträge und die natürliche Fluktuation konstatiert werden muß, so kann daraus nur gefolgert werden, daß die schon erhebliche Arbeitszeitverkürzung eben doch noch nicht weit genug ging. Das VW- Modell ist also keinesfalls gescheitert. Im Gegenteil, es hat sich als praktikables Instrument zur Beschäftigungssicherung bewährt. Deswegen ist es nur folgerichtig, daß der Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung bei VW im September 1995 unbegrenzt fortgeschrieben wurde. Erst zum 31. Dezember 1997 ist er kündbar.

Daß das VW-Modell keineswegs als vorübergehende Notlösung konzipiert war, betonte schon 1994 der VW-Vorstandsvorsitzende Ferdinand Piäch: „Ich bin davon überzeugt, die Produktivität schreitet so schnell fort, daß wir von der Viertagewoche nicht wieder runterkommen.“

Auch wenn verschiedentlich behauptet worden ist, Regelungen wie diejenigen bei VW seien kaum auf andere Betriebe oder Branchen übertragbar, so zeichnet die Entwicklung der letzten zweieinhalb Jahre doch ein anderes Bild. Was bei VW gelungen ist, nämlich das Ineinandergreifen von betrieblicher Kostensenkung und Beschäftigungssicherung vor allem durch Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich, hat völlig neue Gestaltungsräume für die betriebliche Arbeitspolitik eröffnet. Bis Mitte 1995 sind zehn Tarifverträge vereinbart worden, die temporäre Arbeitszeitverkürzungen ohne oder mit teilweisem Lohnausgleich erlauben. Mit Ausnahme der VW- Vereinbarung und des Tarifvertrags für den rheinisch-westfälischen Steinkohlebergbau sind diese Regelungen jedoch keine Muß-, sondern Kann-Regelungen. Sie beinhalten Optionen für Arbeitszeitverkürzungsmaßnahmen. Diesen kann bei Bedarf auf betrieblicher Ebene Rechnung getragen werden.

Das VW-Modell hat unauffällig Schule gemacht

So ist beispielsweise in der Metallindustrie die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 30 Stunden möglich, in der Chemieindustrie von 37,5 auf 35 Stunden und im öffentlichen Dienst Ostdeutschlands von 40 auf 32 Stunden. Auch für die Drucker darf die Arbeitszeit ohne Lohnausgleich von 35 auf 30 Stunden verkürzt werden – gegen eine Beschäftigungsgarantie. Rund 6,5 Millionen Beschäftigte fallen in den Geltungsbereich dieser Regelungen. Über die bisherige Inanspruchnahme liegen nur grobe Schätzungen vor, die für Mitte 1994 von etwa 700.000 Beschäftigten ausgehen.

Die arbeitsplatzsichernden Wirkungen der Arbeitszeitverkürzungen lassen sich real schwer quantifizieren. Rechnerisch beläuft sich der Beschäftigungseffekt bei VW auf 20.000 und im NRW-Steinkohlenbergbau auf 9.000 Arbeitsplätze. Gesamtmetall schätzt, daß in der Metallindustrie so etwa 50.000 Arbeitsplätze gesichert wurden. Laut einer Umfrage der IG Chemie-Papier-Keramik liegt der Beschäftigungseffekt in der Chemieindustrie bei 3.400 Arbeitsverhältnissen.

Angesichts von vier Millionen registrierten Arbeitslosen mögen sich diese Zahlen zwar ein wenig mager ausnehmen. Trotzdem belegen sie, daß es wirksame Instrumente der Beschäftigungspolitik gibt. Weil die rosigen Prophezeiungen des „Bündnisses für Arbeit“ mittlerweile wie Seifenblasen zerplatzt sind, muß Beschäftigungspolitik wieder vorrangig als Arbeitszeitverkürzungspolitik verstanden werden. Ohne Zugeständnisse der Gewerkschaften dürften weitere Schritte in Richtung „weniger arbeiten“ nicht zu haben sein. Jedoch lassen sich so auch neue Denk- und Handlungshorizonte eröffnen – zum Beispiel im Aushandeln individueller Arbeitszeitsouveränität oder der Sicherung vorhandener und der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Dietmar Düe