Weiter am Glücksrad gedreht

Borussia Dortmund wirkt bei seinem unverdienten 2:1 gegen Lodz mitnichten wie der künftige Gewinner der Champions League  ■ Aus Dortmund Ernst Thoman

Der Ausdruck der Enttäuschung drohte orkanartig das Westfalenstadion zu beschallen. Auch der Dauerkarteninhaber in Block 22 wollte 60 Sekunden vor dem Pausenpfiff mit 40.000 frustrierten Borussenfreunden die Lippen spitzen. Schnell teilte der Mann seinem Nachbarn noch sein Halbzeitresümee mit: „Zu Hause vorm Fernseher kannste wenigstens ein Bier trinken!“ Welch ein Satz, mitten in Dortmund. Und plötzlich lag der Ball im Tor. Der Deutsche Meister, der bis dahin nicht einmal zu einem Eckball gekommen war, führte und verkehrte den Fußball.

Bis dahin spielte nur der Klub aus Widzew, einem Vorort der Arbeiterstadt Lodz, wo die Spieler mit 5.000 Mark brutto im Monat an der Spitze der Gehaltsliste liegen. Vier klare Chancen, und die fünfte gleich nach der Pause besaßen sie, und die bessere Spielkultur sowieso. Und immer wieder dieser kleinbullige Marek Citko, der pfeilschnell und dribbelfreudig Europameister wie Sammer, Kohler oder Reuter nervte. Erst 22, Nationalspieler, mit krummen Beinen wie ein Jockey.

Oder Szezsny im Tor. Wie ein Symbol für die sich anbahnende Dortmunder Wendezeit absolvierte der Unbeschäftigte schon nach einer Viertelstunde sein Aufwärmprogramm. Nur die endlosen Rollen an Toilettenpapier, die von der Nordtribüne in seinen Strafraum segelten, machten ihm zu schaffen. Bis Heiko Herrlich ins Netz köpfte. Herrlich, ein bekennender Christ, sollte an diesem verdrehten ersten Spielabend der Champions League ein zweites Mal durch das Mißgeschick des unglücklichen Verteidigers Michalczuk gesegnet werden. Der nämlich legte beim ersten Tor mit dem Kopf, später per Fuß vor. Fußballfreunde buchen das am Stammtisch als Eigentore ab.

Der Deutsche Meister dreht weiter am Glücksrad. Erst am letzten Samstag in Rostock mußte ein Foul von Herrlich („Der Schiedsrichter hätte auch pfeifen können“) in letzter Minute den Sieg vorbereiten. Ein vermeintlich starker Wind an der Ostsee wurde da bemüht, um mannschaftliche Defizite zu bemänteln. Diesmal mußte Trainer Ottmar Hitzfeld in einer für ihn sonst unvorstellbaren öffentlichen Kritik mit hängenden Backen zugeben: „Wir haben ein schwaches Spiel glücklich gewonnen und hatten Probleme in allen Bereichen.“ Was mehr sagt als die von ihm zitierten Floskeln vom „Arbeitssieg“ und „einer schweren Geburt“. Hitzfeld ist in seinem sechsten Jahr bei der Borussia nicht nur als Hebamme gefordert; er muß sich ab sofort als Allgemeinmediziner seiner krisenkränkelnden Fußballer begreifen.

Dabei ist allerdings die Verletzungsmisere offenkundig. Die Borussen mußten gegen Lodz ohne Karlheinz Riedle, Lars Ricken, Steffen Freund, Paulo Sousa, Knut Reinhardt, Martin Kree, Rene Schneider und Ibrahim Tanko auskommen. Der Schotte Paul Lambert kann heute seinen Krankenschein abholen. Das ist eine ganze Mannschaft. Und eine halbe Elf übte sich zum Auftakt des europäischen Edelpilz-Wettbewerbs in praktischer Rehabilitation. So konnte der schattenblasse Chapuisat nach einer Kreuzband-Operation sein Genesungsprogramm fortsetzen, ebenso Herrlich nach Innenbandabriß und Sammer, dessen Knie immer noch Rätsel aufgibt. Auch der Brasilianer Julio Cesar laboriert an gleicher Stelle. So durfte nicht wundern, daß die Schwarz-Gelben derzeit wie eine Sportfördergruppe der Betriebskrankenkasse das Spiel machen: im Schongang, wie in Rostock, auch gegen Lodz, zumindest eine gähnende Halbzeit lang.

In Dortmund drohen aber auch mental-psychologische Konfikte die bislang erfolgreiche Zweckgemeinschaft zu gefährden. Vor zwei Jahren bereits wollte der nach Bremen gewanderte Michael Schulz „nicht für die laufen, die doppelt soviel verdienen“. Die Schere auf den Konten ist seitdem größer geworden, und über den unangreifbaren Sammer wird aus der zweiten Reihe leise gegiftet, er spiele am wenigsten und habe die größte Klappe.

Im Moment kaschieren glückliche Erfolge die gruppendynamischen Störungen. Doch Hitzfeld hat recht, wenn er Probleme in allen Bereichen ausmacht. Der Meistertrainer muß sein Männer-Genesungswerk schleunigst wieder flottmachen. Der Dortmunder an sich scheint das zu spüren: Pokalfieber war in der Stadt nicht festzustellen, und am Spieltag gab es noch 8.000 Karten.

Im Ländle wird man die Probleme des Meisters gerne vernehmen; morgen kommt der VfB Stuttgart, das Dortmunder Glücksrad ist überstrapaziert. Und in der Champions League muß man jetzt zweimal reisen, nach Bukarest und nach Madrid. Wenigstens dann darf der gute Mann aus Block 22 sein Bier zu Hause trinken.

Das einzig Bemerkenswerte am Mittwoch abend leisteten die Borussen-Fanclubs. Auf ihren Transparenten erinnerten sie an die teutonischen Ausschreitungen vor einer Woche beim Länderspiel. „Wir entschuldigen uns für Zabrze“, durften die Gäste aus Polen im Westfalenstadion lesen. „Eine wichtige Geste“, lobte der polnische Staatspräsident Aleksander Kwasniewski.

Widzew Lodz: Szezsny - Wojtala, Lapinski, Michalczuk - Szymkowiak (73. Bajor), Michalski, Cerwiec, Majak, Siadaczka (80. Szarpak) - Citko, Dembinski

Zuschauer: 39.600; Tore: 1:0 Herrlich (45.), 2:0 Herrlich (68.), 2:1 Citko (84.)

Borussia Dortmund: Klos - Kohler, Sammer, Cesar - Reuter, Lambert (24. Feiersinger), Möller, Zorc, Heinrich - Herrlich (77. Tretschok), Chapuisat (90. Bout)