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■ Mögliche OrteTeppichboden mit eingestreutem Popkorn: das Marmorhaus am Ku'damm

Früher war die Welt noch in Ordnung. Unsereins ging ins Babylon in der Dresdener Straße, haute die Beine über die vordere Sitzlehne und störte sich nicht daran, wenn aus der Vorderreihe ein süßer Duft herüberwehte. Im Protestfall der Nachbarn wurde das Pfeifchen als Friedensangebot gereicht. Aus der vorigen Vorstellung standen noch ein paar Bierflaschen herum, und beim Durchwaten durch die Reihen mußte man sich vorsehen, nicht in Kaugummireste zu treten.

Ich erinnere mich gut daran, daß im Moviemento am Kottbusser Damm über mehrere Jahre ein Cola-Fleck oder ähnliches die Projektionsfläche zierte. Schöne, alte Kinotage. Vorbei und vergessen.

Ein Irrtum in der Feierabendgestaltung führte mich kürzlich ins Marmorhaus, das früher zu den zu meidenden Abspielstätten zählte. Als Ku'damm-Kino war es teurer als die politisch korrekten Off-Kinos, zeigte elend lange Werbung, die wir erst mit der Zeit zu goutieren lernten, und hatte ohnehin die schlechteren Filme im Programm.

Robert Redford und Michelle Pfeiffer war es zu verdanken, daß wir „ganz nah ran“ kamen an ein neues Hauptstadtkino-Gefühl. Der Sentimentsschinken um ein amerikanisches Journalistenpaar aus der Nachrichtenbranche wurde im Marmorhaus 3 gegeben, wir waren also auf eines dieser Kinos in Schuhschachtelgröße vorbereitet.

Schon der Aufstieg war beschwerlich, vier Stockwerke hoch über feucht gewellten Teppichboden, der frisch mit diversen Portionen Popcorn eingestreut war. Einige Platten der speckigen Marmorwände waren zerbrochen. Der Schaden schien deutlich älteren Datums zu sein. Ein weibliches Teenieduo kam uns entgegen und teilte uns im Vorbeigehen seinen Entschluß mit, auf den Kinogenuß für diesmal zu verzichten. „Gehen Sie nur hoch“, meinten die beiden hämisch.

Die Leinwand war größer als gedacht, bloß die Luft war etwas schlecht. Das wird noch von der Vorstellung davor sein, dachten wir, die werden noch lüften. Die Wände hatten offenbar Sprayern vor einiger Zeit als Übungsfläche für erste subversive Ausarbeitungen gedient, die in expressive Schimmelflächen übergingen, offenbar durch überschäumende Cola-Dosen hervorgebracht.

Die Sache mit dem Lüften erwies sich als Irrtum. Nach einigen Minuten floß der Schweiß, was das Teenieduo in weiser Voraussicht antizipiert hatte. Kurz vor Beginn des Hauptfilms rauschte noch eine Eisverkäuferin durchs Parkett, demonstrierte ihre Probleme mit dem Kopfrechnen und verschwand wieder.

Ihr Auftritt hinterließ bei mir die dumpfe Ahnung, daß wir uns in einer Art Strafexpedition befanden. Während des Werbeblocks kam ihr Kollege und ermahnte mit routinierter Empörung ein paar Jugendliche, die Füße von den Sitzen zu nehmen. Ein starker Auftritt, dachten wir noch, dann verschlechterte sich die Sauerstoffsituation zunehmend. Wir hielten tapfer bis zum Ende durch, zu dem Robert Redford alias Warren Justice (was für ein Name) bedauerlicherweise sein Leinwand-Leben lassen mußte.

Den Tränen und dem Showdown nahe, wußten wir: gerade noch einmal davongekommen. Ich erzähle dieses sonderbare Raumerlebnis bloß, weil es mich nachdenklich stimmte. Dem nicht gänzlich unbekannten Schmuddelinterieur für „ein paar schöne Stunden“ war so gar nichts mehr abzugewinnen.

Ist die schicke Renovierung der meisten sogenannten Off-Kinos ein Zeichen für den vollzogenen gesellschaftlichen Aufstieg von unsereinem, der schon wegen der bequemen Sitze seit Jahren lieber ins Yorck als in Moviemento geht? Wahrscheinlich schon. Wofür steht dann aber das heruntergekommene, einst wegen seiner schamlos kapitalistischen Verwertungsinteressen gemiedene Etablissement des Marmorhauses? Die Geschichte Roms wiederholt sich eben immer wieder. Harry Nutt

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