■ Deutscher Thatcherismus oder rheinischer Kapitalismus lautet für Joschka Fischer die Alternative, an der sich die Wahl 98 entscheidet. Das eine bedeutet „survival of the fittest“, das andere Einschränkungen für alle. Rot-Grün und weitermachen wie bisher, wird es mit ihm nicht geben
: „Da würde ich lieber Ananas züchten in Alaska“

taz: Herr Fischer, Sie waren jüngst zu Gast bei Romano Prodi, der als unabhängiger Kandidat der Linken zum italienischen Ministerpräsidenten gewählt wurde. Hat Sie der Besuch bei ihrer Suche nach einem deutschen Prodi inspiriert?

Fischer: Das ist eine Debatte, die in Deutschland angesichts des Übermaßes an Enkeln in der SPD bis 1998 nicht zu führen ist und nach 98 hoffentlich nicht mehr geführt werden muß.

Diese Enkel, meint ihr parlamentarischer Geschäftsführer Werner Schulz, seien Luschen, von denen er nicht präsentiert werden will.

Ich teile diese Meinung nicht. Es ist Sache der SPD, über ihr Personal zu entscheiden. Jede Äußerung von uns ist da eher kontraproduktiv. Wir sollten uns da raushalten.

Der Sozialflügel der CDU, modernisierte Sozialdemokraten und Grüne unter der Führung eines unabhängigen Christdemokraten – dieses Modell für Deutschland soll von Ihnen stammen.

So habe ich das nicht gesagt. Ich habe die gesellschaftlichen Kräfte, die in Italien für das Oliven-Bündnis stehen, benannt, und das wären die gesellschaftlichen Kräfte, die in Deutschland für die Modernisierung des Sozialstaates und nicht für seine Abschaffung stehen. Damit solch eine Konstellation möglich wird, müßte das deutsche Parteiensystem aufbrechen. Wenn der Wechsel innerhalb des bestehenden Parteiensystems gelingt, und das ist für 1998 die entscheidende Frage, dann wird es zu diesem Aufbrechen nicht kommen. Gelingt der Wechsel nicht, werden wir eine deutsche Form des Thatcherismus bekommen.

Die Regierungskoalition wird nicht frischer, Kohls Ära wird nach 1998 zu Ende gehen. Nach seinem Abgang werden die marktradikalen egoistischen Kräfte stärker werden. Was wir aktuell an sozialen Auseinandersetzungen erleben, wie die Arbeitgeber dabei agieren, das führt in diese Richtung. Aufgrund dieses Drucks und weil Teile des Konservativismus den Sozialstaat dann offensiv in Frage stellen, wird es zu einem großen inhaltlichen und machtpolitischen Veränderungsbedarf innerhalb des Parteiensystems kommen. Das könnte eine solche italienische Konstellation herbeiführen. Das wäre allerdings nur die zweitbeste Lösung. Die beste wäre, wir schaffen eine rot-grüne Koalition.

Prodis „Olivio“-Programm lautet „ein Bündnis für Markt und Wirtschaft, aber auch für Solidarität und Gerechtigkeit“. Ähnlich klingt das New Labour des Tony Blair. In Deutschland läuft das gleiche eher auf eine Arbeitsteilung hinaus: die Koalition ist für Markt und Wirtschaft und die Opposition für Solidarität und Gerechtigkeit zuständig.

Das sehe ich nicht so. Gerade unsere Partei hat in der Entwicklung eines ökologischen und marktwirtschaftlichen Konzeptes große Fortschritte gemacht. Bei uns spielen die kommunalen Erfahrungen eine große Rolle.

Das sind ja ganz schöne Entwicklungen, doch wahlentscheidend ist die wirtschaftspolitische Kompetenz auf nationaler Ebene. Und da agiert auf seiten der Opposition ein Gerhard Schröder, der auch soziale Einschnitte befürwortet, wenn es denn dem Standort dient, und da erkennt ein Oskar Lafontaine darin eine verhängnisvolle Abwärtsspirale und fordert einen europäischen Ordnungsrahmen. Eine einheitliche Linie ist nur schwerlich auszumachen.

Wenn die SPD jetzt zu einer unverrückbaren Pro-Europa-Position gekommen ist, dann finde ich das gut. Denn in der Tat bedeutet Globalisierung Amerikanisierung, und zwar nicht nur der Weltwirtschaft, sondern auch eine normative Amerikanisierung. Die amerikanische Kultur ist mit der unseren nicht vergleichbar, soziale Integration verläuft dort über andere Mechanismen. Ein Programm wie das von Clinton wäre hierzulande am rechten Rand der CDU angesiedelt, das würde unsere Gesellschaft auseinanderfetzen. Das geht hier gar nicht. Von daher spielt bei uns die Sozialstaats-Integration eine viel wesentlichere Rolle. Die Frage an die demokratische Linke ist folglich, ob wir dieser Amerikanisierung eine Europäisierung entgegensetzen, ob es eine Neudefinition des rheinischen Kapitalismus gibt. Und da liegt auch die Verbindung zu Linkskatholiken wie Prodi.

Schröder meint, Wirtschaftskompetenz ist das, was der BDI gerne hört. Das geht in der Regel schief. Denn die Wirtschaft schimpft zwar ganz fürchterlich über Kohl, wählt und finanziert ihn aber letztlich. Deshalb heißt wirtschaftspolitische Kompetenz nicht, den Wirtschaftsverbänden nach dem Maul zu reden, sondern den politischen Gestaltungsanspruch im Wirtschaftsbereich zu formulieren und ihn durchzusetzen. Deshalb kann die Linke die bisherige Arbeitsteilung nicht mehr akzeptieren, wonach die Rechte für die Hardware, das Geldverdienen, zuständig ist und die Linke für die Software, das Geldausgeben und -verteilen. Das wird nicht mehr funktionieren, weil Teile der deutschen Bourgeoisie sich perspektivisch als Steuerzahler von diesem Land zu verabschieden drohen. Und das wird Auswirkungen auf die Politik der Konservativen haben. Wenn sie also ein Interesse am Erhalt der sozialstaatlichen Integration hat, muß die demokratische Linke sich darum kümmern, wie dieser Reichtum produziert wird.

Und dafür reicht es, wie Lafontaine sich auf einen europäischen Ordnungsrahmen zu berufen und eine Harmonisierung der Steuergesetze zu fordern?

Das ist eine völlig richtige Position. Nur sie wird allein nicht weiterhelfen. Die Opposition kann alles beschreiben, sie kann es beweinen, sie kann es beklagen, sie kann es beschreien – sie kann es in Wirklichkeit aber nur marginal beeinflussen. Entscheidend ist die Rolle, die Deutschland im europäischen Ordnungsrahmen spielt. Und das ist 1998 die Machtfrage. Wenn man also etwas in Europa will, so muß man es hier ändern. Ich sehe nicht, daß uns Europa daran hindert, bei uns im Steuerrecht ein paar Dinge zu ändern. Es ist ein Skandal, daß hier das Geld verdient, es aber im Ausland versteuert wird. Es kann nicht sein, daß Banken sich der Beihilfe zur Steuerhinterziehung schuldig machen. Die Besitzenden im Land müssen sich dazu bekennen, daß es hier vorangehen soll. Da müssen Fehlentwicklungen korrigiert werden, da muß man das Steuerrecht ändern, dazu braucht man nicht auf Europa zu warten.

Jetzt kümmern Sie sich schon wieder um die Soft- und nicht um die Hardware. Gibt es nun ein Standortproblem in Deutschland?

Selbstverständlich. Das hängt mit 1989 zusammen, mit dem Entstehen einer neuen Weltwirtschaftsordnung und einer neuen Wirtschaftsgeographie. Das hängt auch zusammen mit kulturellen Veränderungen, mit Tendenzen zur Individualisierung. Die reiche Single-Gesellschaft tut sich schwer damit, daß geteilt werden muß, daß Zukunftsinvestitionen auch eine Teilhabe kommender Generationen am heutigen Reichtum sind. Eine überalternde Gesellschaft tut sich schwer damit, den Generationenvertrag fortzuschreiben. Heute tun wir zuviel für die Alten und zuwenig für die Jungen. Es ist doch ein Irrtum zu glauben, daß man das später wiederbekommt, was man einmal eingezahlt hat. Vielmehr muß es in dem Jahr, in dem es konsumiert wird, auch verdient werden. Und es wird nicht von den Rentnern verdient, sondern von denen, die aktiv sind. Unser eigener Egoismus muß uns dazu bringen, unsere Ansprüche zugunsten der Jungen zu reduzieren und auf Zukunfts-, auf Bildungsinvestitionen zu setzen. Das gehört für mich zur Hardware.

Wir haben zudem ein Innovationsproblem in Deutschland. Es ist unendlich schwer, neuen Ansätzen zum Durchbruch zu verhelfen. Ich wünsche mir, daß gerade die Grünen wieder stärker die Idee der Alternativökonomie der frühen achtziger Jahre propagieren. Das kann man zwar nicht eins zu eins übertragen, aber einen kreativen Gründungsboom anzustoßen, das ist es, was in Deutschland fehlt.

Nun gelten die Grünen nicht gerade als gründerfreundlich.

Wir sind so gründerfreundlich wie die taz.

Auch das ist schon bald achtzehn Jahre her. Heutzutage bescheinigt die Industrie den Grünen ein innovationsfeindliches Image und verweist auf die Gentechnologie. Die werde von den Grünen in Grund und Boden gestampft.

Diese Technologie ist eine Risikotechnologie. Und da sind wir nicht einfach bereit zu sagen, hurra hier entstehen Arbeitsplätze. Die existieren zudem nicht in der Größenordnung, in der es sich die Herren wünschen.

Sie empfehlen Ihrer Partei, bei der bisherigen glasklaren Haltung zu bleiben?

Ich empfehle ihr einerseits, eine glasklare Haltung zu behalten und die Risiken zu benennen, andererseits mit den Befürwortern in einen Diskurs einzutreten und ein Verfahren zu finden, das nicht wieder in einer Totalkonfrontation mündet. Doch ich will dazu noch eines sagen: Uns wird immer die Biotechnologie vorgehalten. Doch ist das nicht der einzige innovative Sektor. Die Eisenbahntechnologie, die Lösung der Verkehrsprobleme in den Ballungsgebieten, die neuen Energietechnologien, der Durchbruch zum Solarzeitalter – da liegt Hardware für staatliche Rahmensetzung noch und nöcher. Da kann man eine ganze Gründerzeit auslösen.

Die mangelnde Innovation ist eines der Standortprobleme. Was ist mit den Arbeitskosten und der Staatsquote?

Beides ist zu hoch. Warum? Weil der Kanzler der Einheit 1990 nicht den Mumm hatte, als Staatsmann zu agieren und dem deutschen Volk zu sagen, es ist ein großes Glück, daß der Kalte Krieg vorbei ist, daß die Mauer weg ist und wir gewonnen haben, aber daß jetzt zwei Jahrzehnte vor uns liegen, in denen wir uns alle einschränken müssen, die Steuern erhöht werden, um den Aufbau Ost zu finanzieren. Statt dessen hat er Schulden gemacht. Deshalb haben wir eine zu hohe Staatsquote und sitzen in der Zinsfalle. Die Zinslasten werden immer größer und erdrücken jeden Gestaltungsspielraum. Zudem wurden Leistungen wie die Renten in Ostdeutschland den Rentenkassen aufgebürdet, statt sie über die Steuer zu finanzieren. Daraus resultiert die Explosion der Lohnnebenkosten, deshalb haben wir zu hohe Arbeitskosten.

In einer solchen Situation eine Nettoentlastung durch eine Steuerreform zu versprechen ist schlicht unverantwortlich. Denn es bedeutet: entweder die staatlichen Leistungen so reduzieren, daß soziale Unruhen produziert werden, oder die Verschuldung zu erhöhen. Der Gipfel des Skandals ist allerdings die Vorstellung der FDP, den Spitzensteuersatz zu senken und gleichzeitig die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Das würde bedeuten, daß die Masse der Konsumenten die Senkung des Spitzensteuersatzes bezahlt. Wahrlich ein klassischer FDP- Vorschlag. Unser Vorschlag lautet dagegen: Senkung der Lohnnebenkosten und Gegenfinanzierung durch die Einführung einer Ökosteuer.

Eine Erhöhung der Staatsverschuldung ist mit den Grünen nicht zu machen?

Ein klares Nein. Wir haben mittlerweile einen so hohen Schuldenberg, daß wir, wenn wir so weitermachen, in der Zinsfalle zusammenbrechen. Wir belasten die kommenden Generationen, und das lehnen wir auch als Ökologen aus grundsätzlichen Erwägungen ab. Auch kommende Generationen haben einen Anspruch, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten und nicht unseren Zins und Zinseszins zu bezahlen. Die Linke muß endlich begreifen, daß Schulden per se zwar nicht schlecht sind, aber daß sie auch wieder abgebaut werden müssen.

Die Entlastung der Lohnnebenkosten ist nur eine Maßnahme, die die Unternehmer zur Senkung der Lohnquote fordern.

Die Meinung, je mehr ein Kapitalist bekommt, desto besser werde es allen gehen, ist ein Irrglaube. Warum sollen jetzt die Masseneinkommen sinken? Nur weil die Bedrohung des Kommunismus weg ist? Also ich bin für starke, kämpferische Gewerkschaften. Mein Herz schlägt links, und das wird auch so bleiben. Warum soll Herr Schrempp einen höheren Shareholder value zu Lasten der Arbeitseinkommen bekommen?

Weil die Gewerkschaften und die Linke in einer Globalisierungsfalle sitzen: Das Kapital kann sich zumindest partiell entziehen.

Das streite ich ja gar nicht ab. Natürlich ist das eine Frage der Kräfteverhältnisse, wenngleich es für das Kapital auch nicht ganz so einfach ist, sich zu verlagern. Ich sehe allerdings vor allem bei der ungelernten Arbeit einen enormen Verdrängungsdruck, sei es durch Rationalisierung, sei es tatsächlich durch Verlagerung in Niedriglohnländer. Da stellt sich die Frage, wie in einer Gesellschaft, in der Teile der Arbeit auszugehen drohen, Solidarität definiert wird. Die Gewerkschaften waren bereit, Lohnkürzungen hinzunehmen, wenn es zur Schaffung neuer Arbeitsplätze kommt. Ein solches Bündnis für Arbeit haben wir immer für richtig gehalten. Allerdings hat mir bislang kein Ökonom, kein Regierender, geschweige denn ein Wirtschaftsführer befriedigend erläutern können, wieso wir als Standort in der Krise sind und gleichzeitig die Mark überbewertet ist. Das muß mir mal einer erklären.

Natürlich resultiert diese Bewertung aus Standortstärken. Und ich warne davor, die perspektivischen Stärken dieses Standortes in Frage zu stellen. Dazu gehört, daß der rheinische Kapitalismus auf mittlere Sicht seine Stärken hat. Was den kurzfristen Gewinn betrifft, sind wir auf kurze Sicht schlechter als der amerikanische und der angelsächsische Kapitalismus. Aber auf mittlere Sicht sind wir überlegen, wenn wir die Infrastruktur, die Bildung, die soziale Integration im Auge behalten. Das sind die Stärken des sozialstaatlichen Modells und die entscheidenden Faktoren in der internationalen Konkurrenz.

Ihr Wort in Schrempps Ohr. In der Tendenz wird sich die Lohnstruktur jedoch stärker an den betrieblichen Rahmenbedingungen ausrichten.

Nicht nur die Lohn-, sondern auch die Eigentumsstruktur. Wenn in Zeiten der Globalisierung nationale Standorte mehr und mehr in Konkurrenz zueinander geraten und nationale Entscheidungskompetenzen eingeschränkt werden, wenn internationale Märkte mehr als nationale Regierungen über das Lohnniveau, über die Flexibilität der Arbeitsbedingungen befinden, dann muß man die Eigentumsfrage neu definieren. Das ist eine Aufgabe der demokratischen Linken. Wenn ich vom Mitarbeiter verlange, daß er sich so verhält, als wäre es sein eigenes Unternehmen, dann muß auch der Schritt von der Mitbestimmung zur Mitbeteiligung erfolgen.

Also Belegschafts-Eigentum am Produktivvermögen?

Genau. Ich bin mir noch nicht schlüssig über die Ausgestaltung, aber es kann doch nicht sein, daß Erfolgsbeteiligung nur für die Topmanager gilt. Da muß man die Formen der Solidarität im Lande neu definieren.

Es ist ein hochinteressante Aufgabe für Linke und Intellekuelle, hierfür Konzepte zu entwickeln.

Die verweisen auf die konsequenzenlos gebliebenen Konzepte, die Georg Leber bereits in den sechziger Jahren präsentierte.

Ich weiß, so tönt auch Elmar Altvater. Er beklagt seit 1968 den Ausbeutungszusammenhang des Kapitals, umschreibt nicht näher spezifizierte Utopien, aber er weiß keine konkreten Reformschritte. Ich nenne das „die radikale Theorie der eingeschlafenen Füße“, die seit dreißig Jahren nur Niederlagen produziert hat. Dies ist die sichere Garantie für den glatten Durchmarsch der Marktradikalen.

Die Erfolglosigkeit der Leber-Pläne gibt ihm recht.

Wir stehen heute in einer anderen Phase. Die Frage der Mitbestimmung hat seinerzeit nicht die Probleme des Kapitalismus gelöst, und die Frage der Mitbeteiligung wird sie auch nicht lösen, aber es wird der wichtige nächste Schritt werden. Es werden nicht die Leber-Modelle sein. Auch zukünftige sozialstaatliche Sicherung wird durch eine Mitbeteiligung einfacher zu lösen sein, da bin ich mir ziemlich sicher.

CDU-Sozialausschüsse und SPD machen sich bereits für Beteiligungs-Modelle stark. Gibt es demnächst auch eine entsprechende Initiative der Grünen?

Ich hoffe, denn das Problem ist evident.

Der Königsweg der Grünen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit lautet Umverteilung der Arbeit. Der endet jedoch in einer Sackgasse, wenn, was absehbar ist, der volle Lohnausgleich nicht mehr gesichert ist.

Das stimmt leider. Fällt der volle Lohnausgleich weg, wird bei den Betroffenen der Drang nach zusätzlicher, womöglich illegaler Beschäftigung steigen. Das kann man bei sinkendem Realeinkommen keinem vorwerfen. Deshalb wird man über die Wochenarbeitszeit kaum mehr nennenswerte Veränderung erreichen, sondern muß an die Lebensarbeitszeit ran. Man wird über Betreuungstätigkeiten, Qualifizierungsmaßnahmen, Altenarbeitsplätze, gleitendes Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß völlig neu nachdenken müssen. Denn wir werden es schlicht finanziell nicht aushalten, dreißig Jahre auf Rente zu sein. Und wenn die Berufsbilder nicht mehr lebenslang gelten, es eines permanenten Requalifizierungsprozesses bedarf, dann muß lebenslanges Lernen das gesamte Bildungssystem erfassen. Darüber kann man auch den Arbeitsmarkt entlasten, aber es muß finanziert werden.

Zudem geht es um echte Teilzeit, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, hier brauchen wir einen kulturellen Wandel. Letztenge, ob der Anspruch gesellschaftlicher Teilhabe durch ein eigenständiges Einkommen als Bürgerrecht aufrechterhalten wird. Das halten wir für unverzichtbar.

Der Ehrlichkeit halber sollte dann aber endlich Abschied genommen werden vom wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Leitbild der Vollerwerbstätigkeit.

Die Gewerkschaften werden sich davon nicht verabschieden, auch wenn sie einem in dieser Einschätzung recht geben. Aber wir haben es getan und die öffentlichen Reaktionen waren positiv. Die Vollbeschäftigungsgesellschaft wird es auf Dauer nicht mehr geben und damit haben wir ein zusätzliches Verteilungs- und Gerechtigkeitsproblem. Auch deshalb muß Bildung und Ausbildung neu organisiert werden. Denn wir können nicht einen wachsenden Sektor haben, der von Staatstransfers dauerhaft abhängig ist. Das führt, wie wir in den USA sehen, zu Negativreaktionen der Mittelschichten. Wir dürfen keine Ghettoisierung einer großen Bevölkerungsgruppe, die dauerhaft ohne die Perspektive eines eigenen Einkommens von Sozialhilfe abhängig ist, zulassen, denn das führt zu einer Entsolidarisierung. Das geht nach rechts los.

Die Finanzierung all dieser Vorstellungen ist ohne eine gehörige Umverteilung gesellschaftlichen Einkommens nicht machbar.

Um den Zahn gleich zu ziehen, den die Linke ansonsten immer erst nach der erfolgreichen Revolution entdeckt: Die Vorstellung, nehmt's den Kapitalisten und verteilt's gerecht, funktioniert heute weniger denn je.

Sie werden also nicht nur den Spitzenverdienern, sondern auch der gesellschaftlichen Mitte ans Portemonnaie gehen müssen, genau jener Gruppe, die ihnen zum Wahlsieg verhelfen soll. Damit sitzt der Wahlkämpfer Fischer in einem Dilemma.

Aber nein, nein. Es ist ein mühseliges Geschäft, auch mit der eigenen Wählerklientel zu diskutieren und in der richtigen Geschwindigkeit und in den angemessenen Proportionen eine gesellschaftliche Umorientierung hinzubekommen. Man muß den Leuten sagen, daß die Zeit der Konsumzuwächse vorbei ist. Wenn wir für die sozialen und ökologischen Zukunftsinvestitionen notwendigerweise Gelder brauchen, dann können wir nicht Schulden machen, sondern müssen Stück für Stück umorientieren. Das geht an die individuellen Konsumgewohnheiten. Dann müssen die Leute sagen, ob sie das wollen oder nicht. Darüber wird am Wahltag entschieden. Das Volk muß entscheiden, ob es weiterjubeln will auf der großen Party Gegenwart oder ob es sich einschränken will, damit die kommende Generation auch noch etwas von der Party abbekommt.

Da sagt das Volk, der Fischer ist zwar ehrlich ...

... wählt aber Kohl. Dann habe ich Pech gehabt. Ich bin zu jedem Kompromiß bereit und man wird mir bestimmt nicht mangelndes Machtbewußtsein unterstellen, doch ich habe kein Interesse daran, eine Politik zu machen, die falsch ist. Eine rot-grüne Bundesregierung bilden und dann so weitermachen wie bisher, da würde ich lieber Ananas züchten in Alaska.

Womöglich bleibt Ihnen das Schicksal von Strauß erspart, weil die jetzige auch die kommende Koalition ist.

Dann wird der deutsche Thatcherismus kommen. Dann wird die Ausbeutung der Mittelschichts-Ängste vor dem Abstieg zu Lasten des gesellschaftlichen Zusammenhalts Programm werden. Und das bei einer zwar noch starken, aber aus der Defensive heraus operierenden Gewerkschaft und einem zunehmenden Globalisierungsdruck. Dann wird die Ära Kohl zu Ende gehen, dann gehen auch die Geißlers und Blüms aufs Altenteil. Die Generation, die nicht für diesen besitzindividualistischen Extremismus in der Union steht, wird weg sein. Dann wird das soziale Modell des rheinischen Kapitalismus in die Brüche gehen. Deshalb ist das eine Schicksalswahl. Und all das, was ich auf seiten der Linken an ideologischen Trockenschwimmübungen erlebe, wird angesichts dieser historischen Zäsur verblassen. All diejenigen Linken, die heute noch ihre großen Besinnungsaufsätze schreiben, werden sich ein Stück weit schuldig gemacht haben, wenn wir da versagen. Die Wahl ist von der demokratischen Linken nur zu gewinnen, wenn wir ein demokratisch gerechteres Modernisierungskonzept dem Wähler vermitteln. Dann ist eine Mehrheit möglich.

Die Wahl entscheidet also auch über das Schicksal der Grünen.

Wenn es nicht klappt, wird die SPD die größeren Probleme bekommen. Auf die Zukunft der SPD würde ich dann nicht mehr wetten. Für uns würde es auch schwierig werden, weil sich das Parteisystem dann von links her neu sortieren muß. Dann wird neu gemischt.

Und Sie mischen mit?

Gar keine Frage.

Interview: Dieter Rulff