"Das Tabu ist geschwächt"

■ Interview mit Monika Frommel, Direktorin des Kriminologischen Instituts an der Universität Kiel: Das alte Modell "Therapie statt Strafe" reicht heute nicht mehr aus

taz: Gestern hat die Polizei den mutmaßlichen Mörder der zehnjährigen Kim gefaßt. Er hat gestanden, das Mädchen sexuell mißbraucht und sie dann umgebracht zu haben. In den Medien wurde der Fall behandelt, als sei die Bundesrepublik ein Land von Kindermördern. Teilen Sie diese Sicht?

Monika Frommel: Nein. Seit zehn Jahren ist die Rate der vollendeten Tötungsdelikte weitgehend konstant. Von 1991 bis 1995 war sie sogar leicht rückläufig. Bei Delikten sexuellen Mißbrauchs in leichten und mittelschweren Fällen gibt es zwar mehr Strafanzeigen. Wir vermuten deshalb aber nicht, daß die Zahl der Taten angestiegen ist, sondern daß dies auf eine gestiegene Aufmerksamkeit zurückzuführen ist. Im Vergleich zur Schweiz sind die Zahlen ungefähr gleich und zugleich wesentlich niedriger als in den USA.

Was bedeutet denn diese Aussage für Eltern und Kinder?

Daß die Wahrscheinlichkeit, das eigene Kind könnte Opfer von sexuellem Mißbrauch mit Todesfolge werden, sehr niedrig ist.

Kinder scheinen deutlich öfter als früher als Sexualobjekte in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt zu werden.

Ja, der Sextourismus, beispielsweise nach Thailand, hat im moralischen Bewußtsein vieler Menschen Unheil angerichtet.

Was meinen Sie damit?

Wenn Sextourismus für normal gehalten wird, wird das Tabu, daß Kinder keine Sexualobjekte für Erwachsene sein können, geschwächt – womit die Möglichkeit steigt, daß eine bestimmte Männergruppe diese Art von sexuellem Konsum interessant und legitim findet.

Trägt die grelle Medienberichterstattung daran Mitschuld?

Täter, die Kinder sexuell mißbrauchen, sind Dominanztäter. Sie genießen ihre Macht über die Kinder. Eine empörte Berichterstattung bringt sie viel eher auf die Idee, ihren Neigungen zu folgen. Das Anliegen der Gesellschaft, sie zu kontrollieren, bestärkt sie eher in ihren Wünschen.

Haben die Medien somit indirekt zur Nachahmung aufgerufen?

Ja, aber nur zusammen mit der Tatsache, daß Sextourismus normal geworden ist und daß Kinder als Sexualobjekte mehr in das gesellschaftliche Bewußtsein gerückt sind.

Können Eltern und Kinder sich davor schützen?

Die soziale Kontrolle muß steigen. Das heißt, daß das alte Modell „Therapie statt Strafe“ nicht ausreicht. Wir gehen seit den sechziger Jahren davon aus, daß es sich um eine pathologische Tätergruppe handelt. Jetzt ist auch eine risikofreudige und egoistische Tätergruppe dabei, die es interessant findet, den gesellschaftlichen Konsens zu verletzen.

Muß sich in dieser Hinsicht die Praxis des Strafvollzugs ändern?

Diese neue Tätergruppe soll ein hohes Kontrollrisiko einkalkulieren. Somit sind mehr Strafverfahren nötig. Es muß ein besseres Verfahren gefunden werden, damit potentiell gefährliche, aber nicht straffähige Täter ausgrenzend untergebracht werden können.

Heißt das, daß jeder Vater, der sein Kind mißbraucht hat, ins Gefängnis kommen soll?

Nein. Sexueller Mißbrauch durch Fremde und durch Familienmitglieder sind verschiedene Phänomene. Die Kontrolle in der Familie hat sich in jüngster Zeit schon verbessert. Aber jeder, der durch sexuellen Mißbrauch an fremden Kindern aufgefallen ist, sollte von einem Sachverständigen geprüft werden. Interview: Nathalie Daiber