Kommunisten, geht in Frieden!

Die soziale Lage in Bulgarien spitzt sich zu. Der Brief einer Journalistin aus Sofia  ■ Von Wanja Entschewa

Als die Geduld des bulgarischen Volkes zu Ende war und es auf die Straße ging, nannte man es offiziellerseits verächtlich „Masse“ und „Lumpen“. In der Nacht vom 10. zum 11. Januar versuchten die staatlichen elektronischen Medien eine Informationssperre über den Sturm im Land zu verhängen. Die Machthabenden konnten aber ihren Standpunkt den ausländischen TV-Kanälen, die das wahre Bild zeigten, nicht aufzwingen.

Es gibt kein Zurück, so die einhellige Meinung der Demonstrierenden. Die Führung der Bulgarischen Sozialistischen Partei (die umbenannte Kommunistische Partei) hat sich geirrt in der Hoffnung, daß die Proteste nach zwei Tagen vorbei sein würden. Studenten, Intelligenz, Arbeiter und Rentner folgen dem Aufruf der Oppositionsführer und protestieren weiter gegen die verhängnisvolle Politik der sogenannten Sozialisten.

Endlich hat die Einsamkeit ein Ende. Ein landesweiter Streik ist nicht ausgeschlossen. Er würde zwar gewiß die enorme wirtschaftliche Krise weiter vertiefen. Noch schrecklicher aber wäre es, wenn das jetzige Regime weiter an der Macht bliebe. Es kann nur durch Druck zur Abdankung bewegt werden, und dafür sind die Bulgaren bereit, einen hohen Preis zu zahlen.

„In dieser eiskalten Januarnacht tauche ich meine Feder ins Blut ihrer Opfer und in die Tränen der Mütter, und ich richte meine letzte Bitte an Sie – Kommunisten, geht in Frieden!“ Diese Zeilen, geschrieben in der explosiven Nacht des Volkszornes, stammen vom größten zeitgenössischen bulgarischen Dramaturgen und Schriftsteller, Stefan Zenev. Bis heute hat sich die umbenannte Kommunistische Partei beim Volk wegen der Konzentrationslager und der Erstickung jedes Strebens zur Freiheit, selbst zur Gedankenfreiheit, nicht entschuldigt.

In der Nacht des Aufbegehrens, in der es leider auch zu Krawallen kam, rief ich meinen 77jährigen Vater an und meinte freudig, daß das Volk endlich erwacht sei. Er erstarrte und flehte mich an zu schweigen. Mein Vater, der von Beruf Jurist ist und trotz seines Alters und seiner schweren Parkinson-Erkrankung gezwungen ist, als Rechtsanwalt zu arbeiten, da er mit seiner miserablen Rente nicht leben könnte, hat seine Ängste vor Verfolgung und vor der Macht der Staatssicherheit noch nicht überwunden. Er wird es in seinem Leben auch nicht mehr schaffen. Es ist nicht seine Schuld – es ist sein Leid.

Das bulgarische Volk handelte 1989 klug und geduldig, als es sich zwar gegen die Vergangenheit aussprach, aber keine Rache verlangte – sonst wäre Blut vergossen worden. Und doch ließen die Bulgaren sich durch großzügige Versprechungen eines besseren Lebens von Privatisierung und Wirtschaftsaufschwung blenden. Es hat das Mandat der sogenannten Sozialistischen Partei gegeben. Zum letzten Mal.

Bulgarien liegt am Boden. Schlimmer kann es nicht mehr kommen. Die Schulen sind kalt, von den Wänden blättert der Putz. Es ist ein Wunder, daß die Leute in den Altersheimen und die Waisenkinder noch am Leben sind. In den Krankenhäusern gibt es keine Arzneien, es fehlt an Medizin und Verbandsmaterial. Es sind uns nur die guten Ärzte mit ihrer Ergebenheit geblieben. Sie müssen mit etwa 20.000 Lewa (unter 50 Mark) im Monat auskommen. 15.000 Lewa bekommt ein Lehrer, und er ist froh, wenn er nicht zwei Monate auf sein Gehalt warten muß.

In einem einzigen Jahr wurde der Brotpreis – Brot ist hier die Hauptnahrung – um das Zehnfache erhöht. Die Armut ist schrecklicher als im Nachkriegsjahr 1919. Das Mindestgehalt beträgt 5.500 Lewa (8,56 Dollar). Das reicht nur für 30 Brote. Die Mindestrente beträgt 2.808 Lewa (4,37 Dollar). Für die Beheizung eines einzigen Zimmers, und das auch nur für einige Stunden am Tag, muß man 3.500 Lewa im Monat ausgeben. Dabei steigen die Preise für Elektrizität fast monatlich, und die staatlichen Unterstützungen für die schwachen Sozialschichten fließen spärlich und sind im Verzug. Die Maximalrente beträgt 8.424 Lewa (13,11 Dollar). Vor kurzem wurde der Sozialminister der damals noch nicht zurückgetretenen Regierung, Mintscho Koralski, gefragt, warum wir Ostrenten und -gehälter und Westpreise haben. Darauf hat er schamlos geantwortet, daß nicht alles auf einmal gemacht werden könne.

Jetzt fordern machtgierige Politiker das Volk zu mehr Geduld auf. Darauf antworten die Bürger dieses zerrütteten Landes: „Wir haben Hunger!“ Vielleicht begreifen noch nicht alle, wer die Klasse der Neureichen geschaffen hat, die über Immobilien im Westen und in den USA verfügen und prosperierende Firmen leiten, die aus Scheinfirmen entstanden sind. Aber es werden immer mehr.

Jan Widenow wurde am 26. Januar 1995 als Ministerpräsident vereidigt. Damals betrug der Wechselkurs 1 Mark = 44 Lewa. Heute, zwei Jahre später, ist der Währungsmarkt gestürzt auf 1Mark = 405 Lewa. Das Volk ist auf die Straße gegangen. Wer es „graue Masse“ nennt, ist ein Zyniker. Hunderttausende wollen Brot. Die Intelligenz erhebt ihre Stimme für ein würdigeres Leben. Die Studenten fordern: „Vertreibt uns nicht aus unserer Heimat! Wir wollen nicht ungeliebt und heimatlos unser Glück anderswo auf der Welt suchen. Gebt uns eine Chance, durch unser Wissen und Können dieses Land aufzubauen!“

Ein vergessenes Volk auf dem Balkan versucht aufzustehen. Die Kluft zwischen der im Jahre 1989 erwachten Hoffnung und der bitteren heutigen Realität ist groß.

Meine Hoffnung beruht auf der Weisheit meines Volkes. Die Überwindung der jetzigen Krise wird uns bitter schwerfallen. Aber wir sind bereit, für das Land unserer Vorfahren zu arbeiten. Und zu leiden, wenn es sein muß. Die Mutter Bulgarien wartet auf ihre vertriebenen eine Million Kinder. Jeder zehnte hat diesem Land in sieben Jahren den Rücken gekehrt. Ich bin sicher: Die meisten werden zurückkommen. Irgendwann.

Wir brauchen jetzt würdige Politiker. Mit Verstand – Grün, Blau (die Farben der Union der demokratischen Kräfte), Orange (die Bauern) oder Weiß (die Neutralen – falls es sie in Bulgarien gibt). Nur nicht Rot. Bitte nicht Rot! Es hat uns nur Enttäuschung gebracht.

Wanja Entschewa (48), studierte Juristin und seit 23 Jahren Journalistin, lebt in Sofia und arbeitet als Redakteurin für die unbhängige Tageszeitung „Trud“.