TRÄNEN IN DEN AUGEN: Rollendes Facebock
„Sie kämpfte mit den Tränen.“ Ich weiß gar nicht, ob man das so sagen kann. Ob diese schmierige Formulierung eigentlich der Wahrheit entsprach – vielleicht hatte sie einfach nur einen natürlich traurigen Ausdruck auf dem Gesicht. Sie hatte ein steinhartes, aber vielleicht genau deswegen schönes Gesicht. Und klare Augen. Und ich wusste nicht, warum ich sie so anstarren musste. Wegen der Traurigkeit, wegen der Schönheit, wegen der die Schönheit bedingenden oder unterstreichenden Traurigkeit?
Jedenfalls, sie saß mir gegenüber, in diesem fahrenden Facebook vulgo U1, zwischen Kotti und Möckernbrücke, und sie saß seitlich, und dann strahlte plötzlich die Sonne in den Waggon, und ich schaute zurück in meine Zeitung, und im nächsten Moment hatte sie sich die Kapuze über den Kopf gezogen, so dass ich ihr nicht mehr ins Gesicht starren konnte. Tja. Ich fühlte mich ertappt und bestraft, und gleichzeitig wurde ich sauer.
Hatte ich so aufdringlich gestarrt? Ist es so sehr verboten, in das schöne Gesicht einer Frau zu sehen und nach dem Grund ihrer Trauer zu suchen? Ach, vergeblich war mein Zetern. Ich stieg Nollendorfplatz aus.
Auf der Rückfahrt passierte dann etwas völlig anderes. Ein Straßenmusikant stieg ein. Ich steckte die Nase in den neuen Philip Roth, aber es half nichts: Die ersten Akkorde von „Wish You Were Here“ klangen an. Es war die dritte Fahrt in Folge, die ich mit ihm und seinem Song verbringen musste – was anderes konnte er wohl nicht? Er sei heute Morgen damit aufgewacht, sagte er auf Anfrage und flüchtete schnell aus dem Waggon. Und kämpfte mit den Tränen. Während ich mir ansprechende Songs für U-Bahn-Musikanten überlegte. „The Passenger“ wäre hübsch. Oder „Master And Servant“. Oder diesen Zombies-Song mit der Zeile: „What‘s your name? Who’s your daddy? Is he rich like me?“ RENÉ HAMANN
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