■ Nachtrag zur Erfurter Erklärung
: Ein Sack Reis im Epochenwechsel

Viele Städte haben etwas vorzuweisen. Es gibt das Münchener Abkommen, das Godesberger Programm, die Nürnberger Rostbratwürstchen, die Frankfurter Schule und das Leipziger Allerlei. Seitz kurzem steht auch Erfurt nicht mehr schmucklos herum, denn jetzt gibt es die Erfurter Erklärung.

In ihr haben kürzlich Max von der Grün, Stefan Heym, Walter Jens, Horst Eberhard Richter, Friedrich Schorlemmer, Gerhard Zwerenz und andere einen Regierungswechsel gefordert, lauter Autoren, die jedesmal blitzartig zur Stelle sind, wenn es etwas zu unterzeichnen gibt. So läßt sich der einträgliche Prominentenstatus bequemer aufrechterhalten als durch das Verfassen von Büchern, die diesen Namen verdienen.

Der eine, Horst Eberhard Richter, zieht seit Jahren so engagiert wie Don Quichotte gegen den „Zeitgeist der Ellbogenmentalität“ zu Felde, aber auch gegen die sogenannte „Entmündigungs- Schaukel“, gegen die „Abschreckungs-Schaukel“ und gegen die Rollenverteilungs-Schaukel“, drei gefährliche Schaukeln, die Horst Eberhard Richter sich selbst ausgedacht hat, um leichtgläubige Zeitgenossen zu beeindrucken.

Der andere, Gerhard Zwerenz, hat seine intellektuelle Reputation schon vor geraumer Zeit mit der Erzeugung unsäglich unbedarfter erotischer Literatur verspielt; ein kurzes Zitat soll hier genügen: „Bei Müllers im Gasthof ist heut' was los. / Bei den Männern in der Hos'. / Bei den Weibern in die Köpf'. / Die Händ', die machen knöpf-knöpf.“

Ein weiterer Unterzeichner, der Wittenberger Pastor Friedrich Schorlemmer, leidet an grenzenloser Selbstüberschätzung, seit er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat; in seinem Werk „Was ich denke“ hat er wortwörtlich bekannt: „Ich bin Adam“, aber auch: „Ich bin Kain“ und nicht zuletzt: „Ich bin Abraham“. Wer's glaubt, wird selig.

Unterschrieben hat die Erfurter Erklärung auch der allgegenwärtige Professor Walter Jens. Er hat ein stolzes Alter erreicht, aber sonst auch nichts, außer zahlreichen Literaturpreisen, die in Deutschland für geistige Stromlinienförmigkeit verliehen werden. Seine Romane sind fünftklassig und längst dem Vergessen anheimgefallen, und als politischer Publizist hat er in den letzten 40 Jahren keinen einzigen Gedanken in die Debatte gebracht, an den sich noch jemand erinnern könnte.

Niemand weiß, von wem diese Unterzeichner das Mandat erhalten haben, Parteien und Wähler herumzukommandieren. „Von der SPD fordern wir: Mut zur Opposition“, heißt es in der Erklärung. „Von Bündnis 90/Die Grünen fordern wir: den begonnenen Weg ihrer ,Ein-Punkt-Kompetenz‘ (Ökologie) fortzusetzen.“ Und der Forderungskatalog geht noch weiter: „Von der PDS fordern wir: ihre Positionen zum historisch gescheiterten Sozialismusmodell weiter zu klären.“

Das Recht, solche Forderungen zu erheben, müssen die Unterzeichner aus eigener Machtvollkommenheit bezogen haben. Außerdem verstehen sie es als Gewohnheitsrecht, denn sie haben schon sehr viele andere Erklärungen, Appelle und Aufrufe unterzeichnet. Sie gehören eben irgendwie dazu, schon aus Tradition.

Im übrigen macht sich Gerhard Zwerenz als letzter im Alphabet immer gut. Früher hieß es regelmäßig, daß die Unterzeichner eines Aufrufs von Wolfgang Abendroth bis Gerhard Zwerenz reichten; heute reichen sie von Elmar Altvater bis Zwerenz. Ohne Zwerenz wären die auf alphabetische Vollständigkeit versessenen Erstunterzeichner aufgeschmissen. Oder sie müßten ihn durch den Altnazi Kurt Ziesel ersetzen, und das dürfte schwierig werden.

Liest man die Erfurter Erklärung aufmerksam durch, bekommt der unangenehme Eindruck, hier sprächen Leute, die das Gewicht ihrer Stimme und ihres Namens hoffnungslos überschätzen, noch eine andere Färbung: Die Unterzeichner sind größenwahnsinnig. „Es handelt sich nicht um einen Konjunktureinbruch“, schreiben sie, „vielmehr stehen wir mitten in einem Epochenwechsel.“ Theo Sommer, der Herausgeber der Zeit, hat sich bis jetzt damit zufriedengegeben, Jahr für Jahr über den politischen „Gezeitenwechsel“ zu philosophieren. Den Propheten aus Erfurt scheint das nicht mehr zu genügen. Für sie muß es schon ein „Epochenwechsel“ sein, in dem wir uns befinden; darunter fangen sie erst gar nicht an.

Selbstverständlich lassen sich Epochen erst nach Jahrzehnten im historischen Rückblick bestimmen und auseinanderhalten. Wer sich anmaßt, lauthals einen aktuell stattfindenden „Epochenwechsel“ zu verkünden, ist, um das mindeste zu sagen, unbescheiden. Doch die Erfurter Propheten haben noch mehr zu bieten. Sie rechnen bereits in Jahrtausenden und erklären: „Lassen wir uns an der Schwelle zum neuen Jahrtausend den Wert von Visionen nicht ausreden, und beginnen wir zu handeln.“

Nun sollen wir wohl bewundernd zu den Unterzeichnern aufblicken, weil sie in der beneidenswerten Lage sind, historische Epochen und Jahrtausende zu überblicken, wie es nur großen Visionären gegeben ist. Oder Winnetou.

Für soziale, ökonomische und politische Prozesse ist die ominöse Jahrtausendschwelle natürlich überhaupt nicht von Bedeutung. Wer raunend von der Jahrtausendschwelle spricht, spekuliert darauf, daß schon vorab ein Glanz des zu erwartenden Silvesterfeuerwerks auf ihn herabstrahlt. Als er um ein kulturelles Fazit zum Jahresende gebeten wurde, hat der Dichter Robert Gernhardt einmal sehr besonnen geantwortet: „Wer das Jahresende nah sieht / und ein kulturelles Fa zieht / irrt, weil die Kultur der Welt / sich nicht an Termine hält.“

Die Unterzeichner der Erfurter Erklärung aber glauben, daß ihre Erklärung an Bedeutung gewinne, weil sie kurz vor der Jahrtausendschwelle niedergelegt worden ist. Und sie versteigen sich sogar zu einer Art Geisterbeschwörung: „Die Erfahrung von 1968 und der Geist von 1989 sind für 1998 aufgerufen, den Machtwechsel herbeizuführen.“

Wir merken uns, daß es in Deutschland erwachsene Menschen gibt, die einen „Geist“ aufrufen und von ihm erwarten, daß er gemeinsam mit einer „Erfahrung“ in Bonn den Machtwechsel herbeiführen möge. Viele Freunde haben sich die Geisterbeschwörer mit ihrer Erklärung nicht gemacht, aber das war wohl auch nicht der Zweck der Übung. Sie wollten einfach wieder einmal ihre Namen in der Zeitung sehen. Das ist ihnen gelungen. Und deshalb hat auch der zunächst versehentlich vergessene und übergangene Allesunterzeichner Günter Grass in einem Rundfunkinterview erklärt, daß er sich der Initiative angeschlossen habe.

Herzlichen Glückwunsch. Gerhard Henschel