■ Gegensätzliche Vergangenheitsbewältigung: Während Südafrika die Täter der Apartheid amnestiert, verhängt Ruanda gegen Täter des Völkermordes Todesurteile
: Die schwere Suche nach Gerechtigkeit

Zwei Arten Tote gibt es derzeit in Ruanda. Die einen werden auf der Straße produziert. Es sind Opfer jener Hutu-Milizen, die nach ihrem gescheiterten Versuch der Ausrottung der Tutsi-Minderheit 1994 und der gewaltsamen Beendigung ihres Exils in Zaire Ende 1996 nun wieder in ihrer Heimat aktiv sind und Tutsi umbringen. Die anderen Toten leben noch: Über ihnen hängt das Damoklesschwert eines Todesurteils, ausgesprochen von den Richtern der laufenden Prozesse gegen Täter des Völkermordes. Keines der Todesurteile – etwa zehn sind es bisher – ist bisher vollstreckt worden, jedes muß noch die Hürde eines Berufungsverfahrens nehmen. Dieser Zwiespalt ist Ruandas Gegenwart.

Diskussionen darüber, ob bei Völkermordprozessen in Ruanda die Todesstrafe verhängt werden darf, spielen sich oft im abstrakten Raum namens Vergangenheitsbewältigung ab. Vergangenheitsbewältigung setzt voraus, daß die zu behandelnden Ereignisse Geschichte sind: An einem gewissen Zeitpunkt wird ein historischer Schnitt angesetzt, und der Bewältigungsprozeß befaßt sich mit den Ereignissen, die vor diesem Schnitt stattfanden. So wurde zum Beispiel mit dem Zusammenbruch der DDR verfahren, mit dem Kollaps der Apartheid in Südafrika und dem Ende der Militärdiktaturen in Argentinien oder Chile. Aus dem historischen Schnitt wird ein Schlußstrich. Die Vergangenheit ist schmutzig, die Gegenwart ist rein, und daher kann die Gegenwart aus sicherer Distanz über die Vergangenheit richten und Gnade walten lassen.

In Afrika hat Südafrika dieses Vorgehen vorexerziert. Die Vergangenheit namens Apartheid ist vorbei, und nun wird die schmutzige Wäsche des weißen Minderheitsregimes in einer „Wahrheitskommission“ gewaschen: Wer seine Untaten eingesteht, wird amnestiert und nicht mehr bestraft. Es mag für das stockkonservative, puritanische weiße Südafrika merkwürdig erscheinen, die Vergangenheit mit einem Ritual ähnlich dem der katholischen Beichte zu verarbeiten. Aber dieser Weg wurde von Nelson Mandelas ANC bewußt gewählt als Weg zur Versöhnung, mit dem die Apartheid erst überwunden werden konnte. Die Täter blieben vor Verfolgung geschützt, die Opfer setzten sich zu den Tätern an den Tisch.

Es scheint, als ob manche internationale Beobachter es jetzt Ruanda übelnehmen, daß es nicht auch den südafrikanischen Weg der Buße und Absolution geht. Ist Südafrika denn nicht das Modell für Afrika? Sollten nicht wie Schwarz und Weiß am Kap auch Tutsi und Hutu im Land der tausend Hügel sich die Hand reichen und gemeinsam den Weg in die Zukunft beschreiten?

Aber der südafrikanische Weg wäre für Ruanda nicht möglich. Nach Ende des ruandischen Völkermordes im Sommer 1994 war sich die Welt einig: Diese Ereignisse, in denen nicht nur Hutu-Milizen Tutsi-Häuser überfielen, sondern auch Nachbarn ihre Nachbarn umbrachten und Eltern ihre Kinder, konnten nur geschehen, weil noch nie Verbrechen in diesem jahrzehntealten Konflikt um die Macht in Ruanda gesühnt worden sind, weil eine „Kultur der Straflosigkeit“ herrscht, in der auch bei der Einführung demokratischer Strukturen die Ausrottung einer Minderheit lediglich eine etwas brutalere Form ist, dem politischen Gegner Wählerstimmen wegzunehmen. Um Genozid unwiederholbar zu machen, muß die „Kultur der Straflosigkeit“ ein Ende finden. Ein Amnestieverfahren wie in Südafrika wäre da genau das Falsche. Die Täter gehörten nicht in den Beichtstuhl mit Absolution, sondern in den Gerichtssaal mit Schuldspruch und Aburteilung. Und es wäre den Tätern wie eine halbe Amnestie und ein Beweis besonderen Schutzes erschienen, hätte man die bislang in Ruanda geltende Todesstrafe eigens für ihre Prozesse abgeschafft, um europäischen Befindlichkeiten entgegenzukommen.

Mit ausländischen Geldern wurden somit rechtsstaatliche Strukturen in Ruanda aufgebaut. Sowohl das im Ausland tagende UN-Tribunal zu Ruanda wie auch die Gerichte in Ruanda selber verdanken ihre Existenz ausländischer Finanzierung. Ohne internationale Expertenunterstützung wäre das Völkermordgesetz nicht geschrieben worden, nach dem jetzt Todesurteile gesprochen werden; die im Schnellverfahren ausgebildeten Richter könnten nicht richten, die Angeklagten hätten keine Anwälte, denn es gibt in Ruanda nach dem Völkermord kaum noch Richter oder Anwälte. Die Völkermordverfahren in Ruanda sind ein Ergebnis der internationalen Bemühungen, daß in einem auf vielerlei Unrecht aufgebauten Land endlich einmal Recht gesprochen werden kann.

Dies erscheint als um so beachtenswerter, als sich ja mit den sich häufenden neuen Angriffen von Hutu-Extremisten zeigt, daß die Vergangenheit in Ruanda nicht vorbei ist. Zwar hat Ruanda, anders als Südafrika, keinen friedlichen Machtwechsel mit Versöhnung erlebt, sondern die regierende RPF hat die alten Hutu- Machthaber nach dem Völkermord militärisch besiegt. Aber gerade deswegen ist auch eine Rechnung offen, und der Krieg ist nicht beendet. Wenn heute auf Ruandas Landstraßen wieder jeden Tag gemordet wird, gibt es keinen Schlußstrich zu ziehen. Es geht also in Ruandas Gerichten auch um die Gegenwart. Kein Geringerer als Froduald Karamira, als Führer einer radikalen Hutu-Partei vor 1994 einer der Planer des Völkermordes, hat das erkannt, als er zum Schluß seines Verfahrens in Kigali sagte, er sei mit seiner Hinrichtung einverstanden, wenn sie denn der nationalen Versöhnung diene. In Ruanda, dem katholischsten Land Afrikas, ist diese fast kalvinistische Sicht des eigenen Schicksals schon wieder bewundernswert.

Inzwischen beschleicht ja auch manche in Südafrika ein mulmiges Gefühl angesichts der Verfahren in der Wahrheitskommission. Daß Vergangenheit per Schlußstrich gebannt werden kann, gehört zu dem Mythos staatlicher Allmacht über das menschliche Erinnerungsvermögen. Angehörige von Apartheid-Opfern kommen jedoch nur sehr schwer damit zurecht, daß Mörder frei und unbehelligt herumlaufen können, sobald sie geständig sind. Der südafrikanische Weg könnte langfristig erheblichen gesellschaftlichen Zündstoff in sich bergen. Ob in Südafrika die Versöhnung früher gelingt als in Ruanda, ist noch zu beweisen. Dominic Johnson