■ „Beutekunst“: Verzicht auf Rückgabe hilft Rußland
: Eine Frage des Anstands

In dem Streit um die Beutekunst wird ein Keil zwischen die westlichen und die nationalistischen Kräfte in Rußland getrieben. Diese Aufspaltung ist ein hoher Preis für die Rückgewinnung der Kunstschätze. Sollte Deutschland nicht die Gelegenheit nutzen, jetzt, wo die Nato den Russen auf den Pelz rückt, ein Signal der Entspannung zu geben und auf seine Rechtsposition verzichten? Niemand setzt sich dafür ein.

Gerade werden die deutschen Kriegsgreuel in Rußland spektakulär zur Schau gestellt und beklagt. Die Leiden, die der Raubkrieg dem russischen Volk zugemutet hat, sind nur noch dann der Erinnerung wert, wenn es darum geht, die eigene Vätergeneration moralisch zu erledigen. Als Grundlage für die Beziehung zum gegenwärtigen Rußland sind sie vergessen. Unsere Generation erschöpft sich in der Abrechnung mit ihren Vätern; sie kommt nicht dazu, selbst ein anderes, besseres politisches Klima herzustellen. Sie versäumte ihre historische Aufgabe, ein neues, freundschaftliches Verhältnis zu Rußland aufzubauen.

Der Anstand sollte es den Deutschen verbieten, den Russen das Wenige, das Kümmerliche, das ihnen als Beute des Großen Vaterländischen Krieges geblieben ist, nun auch noch wegzunehmen. Sie haben ihre Kriegsbeute im Zuge eines großartigen Schmelzvorganges freiwillig herausgegeben: Sie haben Deutschland die DDR zurückgeschenkt und den Ostblock aus ihrer Klammer entlassen. Statt ihm jetzt diese unverdiente Rückgabe zu danken, sucht man dem russischen Volk nun auch noch die kleine symbolische Genugtuung, die in dem Besitz der Kunstschätze liegt, zu nehmen.

Wenn es schon nicht der Anstand sein kann, der die deutsche Politik leitet, so sollte es die Furcht sein. Die Russen, die gerade ihre Identität als Führer der Weltrevolution eingebüßt haben, sind psychologisch offenbar nicht imstande, auf ihre Kriegstrophäe zu verzichten. Die Klugheit gebietet es, ihnen den Sieg in dieser Frage zu gönnen und ihr Selbstbewußtsein vom Westen her zu stärken, statt sie in eine nationalistische Kompensationshaltung zu drängen.

Bei Kulturgütern von dem Rang, den die Kunstwerke haben, gibt es kein Dein und Mein. Sie gehören der Menschheit. Warum sollen die Russen sie nicht verwalten? Wenn die Freunde dieser Kunst zur Besichtigung nach Rußland fliegen würden, wäre das ein Beitrag zu dem dringend erforderlichen Austausch zwischen den Völkern.

Sibylle Tönnies

Die Autorin lebt als Publizistin in Eutin