■ Kommentar
: Strampeln (lassen)

Wenn man die gesellschaftlichen Verhältnisse, so wie sie im Augenblick sind, ernst nimmt, ist auch die Einrichtung von Velotaxis folgerichtig und wirklich „innovativ“. Warum nicht lieber acht Stunden am Tag an der frischen Luft Fahrradrikscha fahren, als in irgendeinem anderen Klitschenjob noch weniger Geld zu machen. Da erzählen die FahrerInnen, daß ihnen die Arbeit Spaß macht. Das sei doch „befreiender, als arbeitslos in der Stube rumzuhängen“, und man „spart sich auch noch das Geld fürs Fitneßstudio“. Und für andere arbeitet man doch fast immer. Alles geschenkt.

Aber wen macht das Bild, welches die Fahrradrikschas symbolisieren, nicht emotional an? Es ist das Bild für Ausbeutung im Trikont: vorne der arme Proletarier, hinten der fette Reiche. Natürlich ist die Wirklichkeit zehnmal mehr gebrochen und widersprüchlicher. Trotzdem!

In den vergangenen Jahrzehnten wurde versucht, das Bild der direkten Ausbeutung aus dem Gesichtsfeld zu verbannen, was leidlich gelungen ist. Nur mit etwas Anstrengung konnten alle wissen, daß Menschen im Trikont für zwei Mark am Zwölf- Stunden-Tag „unsere“ T-Shirts zusammennähen. Doch die Zeiten haben sich geändert. Es ist schick geworden, Reichtum zu zeigen und sich bedienen zu lassen. Dadurch ist auch Armut nicht mehr zu übersehen. Die Gesellschaft beginnt sich deutlicher aufzuteilen in „die trinkgeldnehmende und die trinkgeldgebende Klasse“ (Alfred Andersch). Die RikschafahrerInnen von Berlin können sich noch so sehr „selbständige UnternehmerInnen“ nennen, offensichtlich ist auch, daß sie eben „nicht viel mehr zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft“ (Karl Marx). Allerdings: spätestens mit den Fahrradrikschas ist auch die „soziale Frage“ in den Metropolen wieder sichtbar. Christoph Villinger