Spielfeld für vielerlei Wortakrobatik

■ Das Abkommen zwischen Rußland und der Nato interpretiert jede Seite anders. Juristisch bindend ist es nicht

Washington/Moskau (taz/dpa/ AP/rtr) – Auf was haben sich Rußlands Außenminister Jewgeni Primakow und der Generalsekretär der Nato, Javier Solana, am Mittwoch tatsächlich geeinigt? Klar ist bislang nur, daß die als historischer Schritt bejubelte Sicherheitspartnerschaft unterschiedlichen Auslegungen Raum läßt.

Bundesaußenminister Klaus Kinkel fühlte sich bemüßigt, noch einmal deutlich zu machen, wer ein Wörtchen mitzureden, aber nichts zu sagen habe. „Rußland entscheidet nicht mit, wer in der ersten Runde der Natoerweiterung dabei ist und wird natürlich auch in Zukunft nicht mitentscheiden“, sagte Kinkel im Deutschlandfunk. Und: Die Nato werde alle sie selbst betreffenden Fragen immer allein entscheiden.

Da mußte Rußlands Staatspräsident Boris Jelzin wohl etwas mißverstanden haben. In einem Interview mit dem russischen Staatschef vom Mittwoch abend hatte sich das alles etwas anders angehört. Die vereinbarte Sicherheitspartnerschaft gäbe Rußland die Möglichkeit, Nato-Entscheidungen zu blockieren, sagte Jelzin. „Entscheidungen können nur im Konsens getroffen werden. Wenn Rußland gegen eine Entscheidung ist, bedeutet das, diese Entscheidung wird nicht durchgehen.“ Dies sei von herausragender Bedeutung.

Auch über den rechtlichen Charakter der Vereinbarung ließ Jelzin seine Landsleute im unklaren. Das Dokument sei vergleichbar mit der Helsinki-Schlußakte von 1975. Diese sei nicht von den Parlamenten ratifiziert, aber doch von den Unterzeichnerstaaten als bindend erachtet worden. Das Wörtchen „juristisch verpflichtend“ aber benutzte auch Jelzin nicht. In Brüssel war die Auslegung eindeutig: Die Übereinkunft habe keineswegs einen völkerrechtlich verbindlichen Charakter, hieß es in Nato- Kreisen.

Was Rußlands Forderung nach einem rechtlich verbindlichen Verzicht auf den Einsatz atomarer Waffen, die Stationierung zusätzlicher Truppen und die Nutzung militärischer Einrichtungen in neuen Mitgliedsländern betrifft, der laut Jelzin jetzt auch eingehalten werden müsse, lieferte US-Präsident Bill Clinton die Interpretation: Der Westen verpflichte sich nur dazu, „alte Installationen des Warschauer Paktes nicht für (...) eine aggressive Vorneverteidigung zu aktivieren“. Die für ein Bündnis wichtige militärische Kooperation sei aber gesichert, da, so Clinton, „einige Infrastruktur“ benutzt werden dürfe.

Trotz, wie es scheint, recht weiter Interpretationsspielräume wollten die Lobeshymnen auch gestern kein Ende nehmen. Bundeskanzler Helmut Kohl jedenfalls begrüßte in einem Telefongespräch mit seinem russischen Freund die Einigung. Laut Regierungssprecher Peter Hausmann nannte der Kanzler das Dokument „einen grundlegenden, weitreichenden Schritt zur dauerhaften Gewährleistung von Stabilität und Sicherheit in Europa“.

Das Dokument eröffne die Perspektive einer langjährigen Sicherheitspartnerschaft mit Rußland unter Wahrung der Interessen des Bündnisses „einschließlich seiner künftigen Mitglieder und Rußlands“, so Hausmann weiter.

Die Einigung stieß nicht überall auf Zustimmung. So hieß es in der rumänischen liberalen Tageszeitung Ziua: „Über die Geheimnisse, die die beiden Würdenträger zwischen den Aktendeckeln verschlossen haben, werden wir später etwas erfahren, am eigenen Leib.“ Das rumänische Außenministerium forderte am Mittwoch, daß die Nato-Rußland-Akte „in keiner Weise den Beitritt der mitteleuropäischen Staaten“, also auch Rumäniens, gefährden dürfe. Die regierungskritische Tageszeitung Adevarul kommentierte gestern: „Die Staaten, die sich schon auf der Erweiterungsliste der Allianz befinden, können erleichtert aufatmen: Die Einigung reißt sie definitiv aus der Einflußsphäre Moskaus heraus und integriert sie in das westliche Wertesystem. Die anderen aber... Leider gehört Rumänien noch zu den ,anderen‘.“