Zum Wahlkampfauftakt fließt das Blut

Ab heute dürfen die algerischen Parteien um die Wählerstimmen kämpfen. Doch die einst stärkste islamistische Oppositionspartei ist verboten, andere fordern einen Wahlboykott  ■ Von Reiner Wandler

Madrid (taz) – Der Humor von Ali Dilem, Zeichner der algerischen Tageszeitung Le Matin, bringt die Befürchtungen vieler AlgerierInnen angesichts des heutigen Wahlkampfauftaktes auf den Punkt: Eine Mann bückt sich verträumt zu einer so eben aufgegangenen Blume: „Liebling, der Frühling steht vor der Tür“, seufzt er entzückt. Seine Frau schaut in die entgegengesetzte Richtung auf eine verstümmelte Leiche in einer Blutlache: „Ach Schatz, die Wahlen auch.“

Unter stärksten Sicherheitsbedingungen beginnt heute in Algerien der Wahlkampf. Fünf Jahre nach dem Abbruch der ersten freien Parlamentswahlen des Landes werden die 17 Millionen Wahlberechtigten erneut an die Urnen gerufen. Die Parlamentswahlen vom 5. Juni, für Staatspräsident Liamine Zéroual „ein entscheidender Schritt Richtung Frieden“, haben jedoch einen entscheidenden Schönheitsfehler: Die Islamische Heilsfront (FIS), deren Sieg einst durch den Militärputsch gestoppt wurde, ist vom Urnengang ausgeschlossen. Eine erneute Zunahme der Attentate der radikalen Islmistischen Bewaffneten Gruppen (GIA) während des Wahlkampfs zeichnet sich ab.

Nach offiziellen Angaben starben allein in den letzten zwei Wochen 36 Menschen bei Anschlägen und Überfällen der GIA, Hunderte wurden verletzt. Angst und Schrecken soll die Menschen vom Gang zu den Urnen abhalten. Die GIA-Kommandos, die von den Militärs nach mehrmonatigen Razzien und Flächenbombardierungen in den Bergregionen rund um Algier immer wieder totgesagt wurden, verlegen ihr Operationsgebiet zurück in die Hauptstadt. Selbst verstärkte Kontrollen auf allen Zufahrtstraßen können Anschlagserien nicht verhindern. So explodierten vergangenen Sonntag innerhalb weniger Stunden vier Bomben in den gehobenen Stadtvierteln der Hauptstadt. Mindestens acht Menschen kamen zu Tode, über 100 wurden verletzt. Gleichzeitig beginnen die GIA damit, Kandidaten zu ermorden. Zwei Vertreter der Versammlung für Kultur und Demkoratie (RCD) und zwei weitere Kandidaten der Bewegung Junge Demokratie (MJD) sind die ersten Opfer.

Die verbotene FIS verurteilt „die Barbarei“ und ruft zum Ende der Gewalt. Erstmals seit zwei Jahren meldeten sich die Wahlsieger von 1992 wieder direkt aus Algerien zu Wort. In einem Exklusivtreffen mit dem Korrespondenten der französischen Tageszeitung Le Monde, „irgendwo in der Hauptadt“, forderten zwei Vertreter der Inlandsleitung der FIS „einen ehrlichen und durchsichtigen Dialog aller Konfliktparteien“. Der Vertreter der größten legalen Oppositionskraft, der Front der Sozialistischen Kräfte, Hocine Ait Ahmed, stimmt dem zu. In einem offenen Brief an UN- Generalsekretär Kofi Annan, US- Präsident Bill Clinton und die Staats- und Regierungschefs der EU bezeichnet er die Wahlen als „makabre Maskarade“. Die Bevölkerung sei zur Geisel derer geworden, „die im Namen Gottes Barbarisches begehen und derer, die im Namen des Vaterlands Bombardements anordnen.“

Präsident Zéroual, der sich seit Jahren weigert, Gespräche mit den verbotenen Islamisten aufzunehmen, wähnt sich unterdessen am Ziel. Eine eigens gegründete Präsidentenpartei, die Nationaldemokratische Versammlung (RND), soll für den richtigen Wahlausgang sorgen und seinem Regime endgültig ein demokratisches Mäntelchen verleihen. Sollte es für die RND, auf deren Liste unzählige namhafte Regierungsvertreter, Mitglieder der ehemaligen Einheitspartei FNL und Massenorganisationen antreten, trotz aller Umfragen nicht zur absoluten Mehrheit reichen, können die Regimetreuen auf die Unterstützung der gemäßigten Islamisten der Gesellschaft für den Frieden (MSP) setzen, die bereits mit zwei Ministern im Kabinett vertreten sind.

Doch Streit um das Wahlergebnis ist bereits vorprogrammiert. Chancengleichheit, so die Vertreter der legalen Opposition, gebe es ohnehin nicht. Während die RND die gesamte Verwaltung bis hinunter auf Gemeindeebene in der Hand hält und so für ihren Wahlkampf einsetzen kann, müssen sich die Oppositionsparteien mit spärlichen Sendeplätzen im staatlichen Rundfunk und Fernsehen zufriedengeben. „Die Zerstörung vieler Wählerkarteien in den im Folge des Bürgerkriegs verlassenen Gemeinden verschafft dem Regime eine Manövriermasse von zwei Millionen Wählern, von denen keiner weiß, wo sie sich aufhalten“, gibt Ait Ahmed zu bedenken. Auch die von Zéroual eingeladenen 200 internationalen Wahlbeobachter werden nur wenig ausrichten können. Sie können unmöglich alle 33.000 Wahllokale überwachen. Ait Ahmed fordert, Wahlbeobachter „auch für die Gebiete, in denen ganze Familien enthauptet wurden, ohne daß es jemals eine Untersuchung gegeben hätte“. Die Weise, wie die internationale Kontrolle stattfinde, sei „kein Zeichen der Solidarität, sondern einmal mehr eine stillschweigende Unterstützung des Regimes.“