Zwei Welten in Velten

In der Kleinstadt Velten im Norden von Berlin verläuft eine unsichtbare Grenze zwischen einer alten Plattenbausiedlung und der superschnieken Wohnanlage „Am Kuschelhain“  ■ Von Barbara Bollwahn

Lehnt sich Martina Gräfe* weit genug aus ihrem Imbißwagen, kann sie in eine Traumwelt blicken: Inmitten von gepflegten Wiesen und Blumenrabatten stehen nagelneue Häuser. An den Eingangstüren prangt das Signet des Bauherrn als Türklinke. Säuberlich gepflasterte Wege führen zu hübsch gestalteten Arrangements von Abfallcontainern neben grün eingefaßten Versammlungen von Parkplatzbuchten. Der edel gestutzte Rasen scheint gegen Papier und Bierbüchsen immun zu sein.

Kurzum: eine Idylle.

„Am Kuschelhain“ heißt die Wohnanlage. Eine Bodenwelle markiert die unsichtbare Grenze. Jenseits des betonierten Geschwindigkeitsentschleunigers wohnen „die, die die Nase hochtragen, weil sie sich als was Besseres fühlen“, weiß Martina Gräfe. Dort, wo ihr Imbißwagen steht, ist Velten-Süd, eine Plattenbausiedlung aus DDR-Zeiten mit 1.400 Wohnungen. Da wohnen die, für die Mitte der 80er Jahre fließend warmes Wasser und Zentralheizung Luxus pur waren in der 12.000-Einwohner-Stadt im Norden Berlins. Damals.

Damals, als noch alle Arbeit hatten. Damals, als die Jugendlichen noch einen Klub hatten und sich von den Erwachsenen was sagen ließen. Damals, als ausziehende Mieter ihre alten Möbel nicht auf der Straße entsorgten. Damals, als dort, wo jetzt die schnieke Wohnanlage steht, noch alle Bäume des Wäldchens „Die Kuscheln“ standen.

„Wir leben hier unter aller Sau“, sagt Martina Gräfe. Sie selbst lebt seit zehn Jahren in Velten-Süd. In den zügigen Treppenhäusern vermischt sich der Putz, der von den Wänden fällt, mit den Hinterlassenschaften der Mieter. Die Hausordnung wird von vielen als ein Relikt aus alten Zeiten angesehen. Ab einem bestimmten Punkt scheint es egal zu sein, ob viel oder wenig Müll neben den alten Kühlschränken auf der Wiese herumliegt. Blumen blühen dort schon lange nicht mehr. Die Wäschetrockenplätze hinter den Häusern bestehen aus verrosteten und verbogenen Eisenstangen. Die Abfallcontainer sind zwischen den großen Müllbergen herum kaum auszumachen. Es ist wie mit Übergewicht: Ist die 100-Kilo-Grenze erst mal überschritten, kommt es auf ein paar Speckrollen mehr auch nicht mehr an.

Die Mieter im Kuschelhain achten dagegen sehr penibel auf die Einhaltung der Ordnung. In den Treppenaufgängen verspricht die Reinigungsfirma „Hygiea“, daß der „Leistungsumfang“ das Fegen und Wischen der Aufgänge, Etagenpodeste, Handläufer und Lichtschalter „mit geeigneten Pflegemitteln“ beinhaltet. An vielen Wohnungstüren heißt es „Füße abstreichen“. Auch für den Spielplatz gibt es einen Verhaltenskodex: Fahrräder, Ballspiele und Hunde sind verboten. Höchstalter der zugelassenen Kinder: 12 Jahre.

In Velten-Süd dagegen begnügen sich die meisten Mieter damit, dem Verfall tatenlos zuzusehen. „Hier macht jeder, was er will“, schimpft Martina Gräfe. Versuchen einzelne Mieter, mit wenigen Quadratmetern frischgesätem Rasen gegen die Gleichgültigkeit ihrer Nachbarn und die Tristesse der Betonwüste anzukämpfen, wird ihr Engagement im Wortsinn mit Füßen getreten. Der Zahn der Zeit und die Gleichgültigkeit vieler Mieter haben den Fertigbauteilen und ihrer Umgebung so zugesetzt, daß viele nur noch vom „Ghetto“ sprechen. Wer kann, zieht weg aus den Straßen, die noch immer „Deutsch-Sowjetische Freundschaft“ und „Straße der Freundschaft“ heißen.

All das scheint der Bauherr vom Kuschelhain, die Schwörer-Haus- GmbH, geahnt zu haben, bevor Mitte 1994 die ersten der insgesamt 434 Wohnungen bezogen wurden. Denn als sich die ersten Mieter darüber beschwerten, daß leibhaftige Südstädter durch die verkehrsberuhigte Zone mit Biotop rasten, sollte ein „künstliches Hindernis“ errichtet werden, um die Durchfahrt zu unterbinden. Die Stadtverwaltung untersagte dies. So schrumpfte das geplante Verkehrshindernis zu einer Bodenwelle. Die Südstädter nennen sie dennoch – Mauer.

Doch auch so ist der Kuschelhain unerreichbar für Leute wie Martina Gräfe. 12 Mark Kaltmiete oder über 4.000 Mark pro Quadratmeter Eigentumswohnung kann sich die 35jährige nicht leisten. Da macht sie sich nichts vor. Sie möchte nicht so enden wie ehemalige Südstädter, die sich mit Krediten übernommen hatten und nach wenigen Monaten im Kuschelhain wieder zurückkamen.

„Hier wohnen keine Stinkreichen aus Westdeutschland“, stellt Hans-Günter Baudisch von der Hausverwaltung klar. Nur ganz wenige Mieter kämen aus den alten Ländern, sagt er. Viele Kuschelhainer müßten rechnen und würden bis 40 Prozent ihres Einkommens für Miete ausgeben. Viele Besitzer der Eigentumswohnungen seien ältere Leute, „die sich zum Schluß noch eine schöne Wohnung leisten wollen“. Den Frust der Südstädter sieht er in einer „zunehmenden Anpassung an eine nicht so schöne Situation“.

Eine 60jährige Neu-Kuschelhainerin glaubt, daß die Südstädter ihre eigene Unzufriedenheit mit Vorurteilen über die ungeliebten Nachbarn kompensieren. „Die machen sich ihre Probleme selber“, ist sie überzeugt. Sie könne sich nicht vorstellen, daß irgend jemand aus dem Kuschelhain etwas dagegen habe, wenn die Kids aus der Südstadt dort spielen – „wenn sie nicht genauso Dreck machen“. Doch daß Jugendliche Schnapsflaschen und Zigarettenkippen rumliegen lassen, sei wirklich „nicht so schön“. „Wie Begaste“ rasten sie durch die verkehrsberuhigte Zone. „Es muß hier nicht so aussehen wie da drüben“, sagt sie. Eigentlich sei sie „gegen Mauern“. Doch manchmal denke sie, daß die Idee „gar nicht so schlecht“ gewesen sei.

„Wir haben nichts gegen die Südstädter“, betont ein Rentner, der für sich und seine Frau im Kuschelhain ein letztes neues Zuhause gefunden hat. Doch es dürfe nicht sein, daß „halbstarke Kinder hier Mist machen“, schimpft er. Alles eine Frage der Erziehung, ergänzt seine Frau. Und daß die Häuser hier schöner sind, sei schließlich nicht ihre Schuld. „Dafür zahlen wir auch mehr.“

Ein anderer Rentner, 69 ist er, hat dagegen entschieden etwas gegen die Südstädter. Vor kurzem war er drauf und dran, den Hausmeister damit zu beauftragen, die Bank vor seinem Haus abzumontieren. Ständig würden Jugendliche aus der Südstadt rumlungern. „Die bringen ihre Köter mit und setzen sich mit dem Hintern auf die Lehne.“ Er wisse genau, wo die Schuldigen herkämen, die da dreimal sein Moped im Keller demoliert haben! Wütend blickt er in Richtung Südstadt, wo Martina Gräfes Imbiß verloren zwischen Supermarkt und Hähnchengrill auf blankem Boden steht.

Ein Mann, der seinen Kaffee am Kiosk trinkt, setzt zu einer Gesellschaftsanalyse an: „Die Wende hat Gutes und Schlechtes gebracht“, sagt er. Gutes scheint ihm nichts einzufallen. Viele, die jetzt „drüben“ arbeiten, gemeint ist Berlin, und im Kuschelhain wohnen, „bilden sich ganz schön was ein“. Sie würden nicht nur die Nase hoch tragen, sondern sie auch noch über die Südstadt rümpfen. „Unsere Kinder dürfen dort nicht spielen“, schimpft er.

Eine Rentnerin, die es sich mit einem Sofakissen unterm Arm im Küchenfenster bequem gemacht hat, macht es sich nicht ganz so leicht. „Viele Leute aus Süd sind selbst dran schuld, wie es hier aussieht“, sagt die 60jährige. Immer wieder mache sie den Rasen vor ihrem Haus sauber, und am nächsten Tag liege doch wieder Müll herum. „Keiner kümmert sich drum“, sagt sie. Sagen lasse sich keiner was.

Aus diesem Grund verbringt der 16jährige René, der vor einem Dreivierteljahr von der Südstadt in den Kuschelhain gezogen ist, einen Großteil seiner Freizeit in der alten Heimat. „Wenn wir uns hier hinsetzen“, erzählt er, „meckern alle“. Doch das sei okay, schließlich wohnten hier viele Alte und kleine Kinder. Mit dem strengen Regime in seinem neuen Wohngebiet hat er keine Probleme. Statt wie früher die Musik voll aufzudrehen, stülpt er sich eben einen Walkman über die Ohren. Ohne zu Murren. Will er unbeschwert laut sein, geht auch er „rüber“. Denn: „Da sagt halt keiner was.“

Gegen den Neid müsse doch die Stadt was machen, meint ein 39jähriger Lehrer, der an der Schule im Neubaugebiet Deutsch und Sport unterrichtet. „Die Fehler sind in der Stadt zu suchen“, sagt er. Die angekündigten Sanierungskonzepte ließen sehr auf sich warten. „Man hätte längst was machen müssen.“ Denn auch ohne viel Geld, merkt er an, könnte man die Südstadt attraktiver machen.

Diese Hoffnung hat Klaus Schöpke* nicht mehr. Klaus Schöpke ist Hausmeister in der Südstadt. Seitdem die „soziale Absicherung weggebrochen“ ist, herrsche das Ellenbogenprinzip. „Mein, mein, mein“, sagt er, das sagten alle. „Ohne Rücksicht auf Verluste.“ Sein Fazit über die Jugendlichen fällt düster aus: „Die lungern rum, brechen Keller auf, klauen Autos.“ Nicht wenige seien zudem rechts eingestellt. An die Vernunft appellieren? Man bekomme doch nur „dumme Antworten“. Die Aussicht, weiterhin tagtäglich nur den Müll anderer wegzuräumen und immer wieder die gleichen Türschlösser und Scheiben auszuwechseln, setzt ihm zu. Schon nach knapp einem halben Jahr Job in der Südstadt denkt Schöpke ans Aufhören. „Das alles hier geht mir aufs Gemüt“, sagt er. Er habe Wohnungen gesehen, erzählt er mit leiser Stimme, das glaube man nicht. Obwohl es ihn sichtlich drängt, seinem schweren Herzen Luft zu machen, schweigt er. Mieterschutz. Martina Gräfe teilt seinen Pessimismus. „Das wird ewig ein Ghetto bleiben“, sagt sie. Manchmal hat sie nur einen Wunsch: Raus, einfach weg.

*Namen geändert