Heraus aus dem nationalen Politikbiotop

Welche Antworten hat die Linke auf Globalisierung und Hegemonie des Neoliberalismus? Ulrich Beck, Pierre Bourdieu und Joschka Fischer trafen sich letzten Sonntag auf Einladung von Heinrich-Böll-Stiftung und taz zu einer Podiumsdiskussion in Frankfurt am Main

Beck: Wo in Frankreich und Deutschland das Wort „Globalisierung“ ausgesprochen wird, geraten die Menschen in den Zustand eines gelähmten Kaninchens, kurz bevor es von der Schlange Weltmarkt verschlungen wird. In Großbritannien dagegen hat nach zehn Jahren sozialwissenschaftlich angereicherter Debatte um Globalisierung dieser Begriff den Status einer begründeten und begrüßten Selbstverständlichkeit politischen Denkens und Handelns erlangt, das G-Word erschreckt dort niemanden mehr, ganz im Gegenteil. In Frankreich und Deutschland erschüttert Globalisierung das Selbstbild eines abgeschlossenen, abschließbaren nationalstaatlichen Raums. Demgegenüber war Great Britain ein Weltreich, und Globalisierung ist eine angenehme Erinnerung daran. Zwar ist auch die Exportnation Deutschland längst ein globaler Ort, an dem sich die Kulturen der Welt und ihre Widersprüche tummeln, aber diese Realität liegt abgedunkelt im herrschenden Selbstbild einer weitgehend homogenen Nation, die sich bis heute, wie Sie wissen, auf Bluts- und Verwandtschaftsbande als ihre Identität beruft. Genau dies alles bricht auf im Zuge der Globalisierungsdebatte.

Aber wichtiger ist, daß dauernd von Globalisierung die Rede ist, wo überhaupt nicht von Globalisierung die Rede sein kann. Seit geraumer Zeit wird den verschreckten Zeitgenossen dargelegt, daß sich die Bundesrepublik von einem ehemaligen Wirtschaftswunderland in ein Wirtschaftskummerland verwandelt habe. Dagegen steigen die Exporte und die Gewinne aus den Exporten, während bislang jedenfalls der Export von heimischen Arbeitsplätzen in Billiglohnländer nur in einem unerheblichen Ausmaße stattfindet, nämlich circa zehn Prozent des Exports, wobei gleichzeitig wiederum bestimmte Aufrechnungen durch Importe möglich sind. Überall wird also Globalisierung mit Internationalisierung verwechselt, wobei Internationalisierung innerhalb der wirtschaftlichen Diskussion zunächst heißt, daß sich die Austauschprozesse weitgehend innerhalb homogener Regionen der Welt bewegen, also wenn man das auf Deutschland bezieht, sind immer noch über 70 Prozent bis zu 80 Prozent des Handels innerhalb der westlichen Industriestaaten und sogar größtenteils innerhalb Europas abgewickelt, und insofern muß man also deutlich zwischen Internationalisierung und Globalisierung unterscheiden. Abschließende Kuriosität: Wenn die Globalisierung der Wirtschaft ein Phantom ist, warum dann die gesamte Aufregung? Worum geht es eigentlich? Warum eine riesengroße Koalition des Protektionismus als Reaktion auf eine offenbar zumindest anzweifelbare wirtschaftliche Globalisierung? Die schwarzen Protektionisten beweinen den Werteverfall und den Bedeutungsverlust des Nationalen, aber betreiben widersprüchlich genug die neoliberale Dekonstruktion des Nationalstaates. Die grünen Protektionisten entdecken den Nationalstaat als ein vom Aussterben bedrohtes Politikbiotop, das Umweltstandards gegenüber Zugriffen des Weltmarktes schützt und insofern seinerseits wie die bedrohte Natur schützenswert ist. Rote Protektionisten klopfen für alle Fälle schon einmal den Staub aus den Kostümen des Klassenkampfes. Für sie ist Globalisierung ein anderes Wort für doch recht gehabt, ein marxistisches Osterfest, eine Art Wiederauferstehung. Es handelt sich allerdings um eine utopisch erblindete Rechthaberei.

Meine Damen und Herren, die Konfusion ist so groß, daß ich mich damit begnügen möchte, eine Unterscheidung vorzuschlagen, die vielleicht den Bedeutungsdschungel etwas lichten hilft. Es ist dies die Unterscheidung zwischen Globalismus einerseits, Globalität und Globalisierung andererseits. Globalismus meint die Ideologie des Neoliberalismus, die Ideologie der Weltmarktherrschaft. Diese wird als monokausal unterstellt ökonomistisch und verkürzt die Vieldimensionalität der Globalisierungsfragen auf eine, nämlich die wirtschaftliche Dimension, die auch noch linear gedacht wird im Sinne also einer immer weiteren Steigerung der Abhängigkeiten. Alle anderen Dimensionen – ökologische Globalisierung, kulturelle Globalisierung, politische Globalisierung – werden, wenn überhaupt, nur in der unterstellten Dominanz der wirtschaftlichen Globalisierung thematisiert. Von diesen Fallstricken des Globalismus möchte ich also unterscheiden Globalität und Globalisierung. Globalität meint, wir leben längst in einer Weltgesellschaft, und zwar in dem Sinne, daß die Vorstellung abschließbarer Räume fiktiv wird. Kein Land, keine Gruppe kann sich gegeneinander abschließen. Dies bedeutet, daß die Gegensätze der Kulturen aufeinanderprallen und die Selbstverständlichkeiten, auch die des westlichen Lebensmodells, sich völlig neu rechtfertigen müssen. Globalisierung meint demgegenüber den Prozeß, einen Prozeß, den man übrigens auch empirisch in seiner Vielfalt untersuchen muß, zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort, mit einer bestimmten Dichte der transkulturellen, transnationalen Beziehungen, die entstehen. Der transkulturellen Räume, sozialen Räume, die sich öffnen, Mobilitätsräume und ähnliches mehr, die man entsprechend untersuchen muß.

Globalisierungsskeptiker fragen, was ist neu, und behaupten nichts wirklich Wichtiges, aber sie liegen historisch, empirisch und theoretisch falsch. Neu ist nicht nur das alltägliche Leben und Handeln über nationalstaatliche Grenzen hinweg, in dichten Netzwerken, mit hoher wechselseitiger Abhängigkeit und Verpflichtung, neu ist die Ortlosigkeit von Gemeinschaft, Arbeit und Kapital. Allein das müßte man erst mal durchdenken und begreifen. Neu ist das Entstehen eines globalen ökologischen Gefahrenbewußtseins und entsprechender Handlungsarenen, neu ist die unausgrenzbare Wahrnehmung transkultureller anderer im eigenen Leben, also die Zwangsläufigkeit, sich mit anderen kulturellen Grundauffassungen auseinanderzusetzen, neu ist die Zirkulation globaler Kulturindustrien, sozusagen die transnationale Variante jener Kulturindustrie, von der Horkheimer und Adorno sprachen; neu ist die Zahl und Macht transnationaler Akteure, Institutionen und Verträge. Schließlich ist auch neu das Ausmaß ökonomischer Konzentration, das allerdings auch abgebremst wird durch neue, grenzübergreifende Weltmarktkonkurrenz. Globalisierung meint also auch nicht Weltstaat, genauer Weltgesellschaft ohne Weltstaat und ohne Weltregierung. Was entsteht, ist ein global desorganisierter Kapitalismus mit vielfältigen Eigenlogiken innerhalb der Dimensionen der Globalisierung, die ich gerade genannt habe.

Meines Erachtens kommt es darauf an, diesen Denkvirus des Globalismus zu relativieren und sich sowohl theoretisch wie auch politisch zu öffnen für die Vieldimensionalität des Globalisierungsprozesses.

Fischer: Solange Globalisierung in der Bipolarität des Kampfes von Gut und Böse jener Positionen auf der Seite des Westens oder Ostens stattgefunden hat, solange namentlich die Linke die Globalisierung unter dem Banner der internationalen Solidarität abhandeln konnte, hatte sie damit kein Problem. Nun gab es das Jahr 1989/90. Da hat jemand gewonnen, und andere haben verloren. Und plötzlich positioniert sich die Linke auf dem Boden des Nationalstaates.

Mit dem Wegfall dieser Bipolarität und der internationalistischen Illusion stellt sich jetzt die Globalisierung im wesentlichen als ein kapitalistisches Projekt, ein Projekt des Großkapitals dar, und damit hat namentlich die traditionelle Linke große Probleme.

Wenn man diesen Prozeß unter dem Gesichtspunkt der Gestaltung sieht, stellt sich die Frage: Handelt es sich bei diesem Prozeß der Globalisierung, den wir gegenwärtig beobachten, um ein Ausdruck der Anpassung der Produktionsverhältnisse an die Notwendigkeiten Fortentwicklung der Produktivkräfte? Wenn es so ist, ist jeder Linke, der dagegen kämpft, ein Illusionist, und zwar nach Karl Marx. Wenn es sich allein um ein Attentat des internationalen Kapitals, um eine besonders gelungene Propagandaschlacht handelt, dann ist jede Verweigerungshaltung meines Erachtens gerechtfertigt. Handelt es sich aber um ein Ergebnis des Akkumulationsprozesses des Kapitals – also haben sich die Produktivkräfte dermaßen internationalisiert, globalisiert, daß die Produktionsverhältnisse damit die gesellschaftlichen, die soziologischen, die politischen Verhältnisse, die kulturellen Verhältnisse die nationale Hülle zu eng geworden ist –, dann wird jeder gestaltende Einfluß auf der Grundlage dieser Globalisierung selbst stattfinden müssen und sich nicht in eine Verweigerungshaltung umsetzen dürfen. Ich neige dem zweiten zu. Globalisierung ist für mich Ausdruck eines – mit Marx zu sagen – Entwicklungsprozesses der Produktivkräfte, der die Produktionsverhältnisse des 19., des 20. Jahrhunderts auf den Kopf stellt. Das heißt, der jetzt wirklich zu einer globalen Industrie oder postindustriellen Gesellschaft führt mit dramatischen Veränderungen für die Realität, die wir im Westen kennen. Und meines Erachtens ist das nicht nur eine Frage von einem Prozeß, sondern ich sehe drei Prozesse, die hier zusammenspielen, die normalerweise unter dem Begriff der Globalisierung abgehandelt werden, zumindest was ihre Folgen betrifft.

Das erste ist die Individualisierung der westlichen Gesellschaften, das zweite ist die Tertiarisierung unserer Nationalökonomien, das heißt der Übergang zu Dienstleistungsgesellschaften, und das dritte ist die jetzt technisch in einem Maße möglich gewordene Internationalisierung der Märkte, wie das vorher nie der Fall war. Das heißt, der Eintritt vor allem der Finanzmärkte, aber in der Konsequenz auch der Arbeitsmärkte und anderer Märkte, auch der realiten Gütermärkte in die Internationalisierung bedingt vor allen Dingen durch Kommunikationstechnologien und die Möglichkeiten, die sie an reale Internationalisierung eröffnen. Das sind die drei Prozesse, die zusammenspielen.

Für eine Linke müßte sich also jetzt die Frage stellen – wenn dieser Prozeß läuft, der unter dem Gesichtspunkt der Öffnung ein sehr wichtiger und richtiger ist –: Wie können wir dann in einem nächsten Schritt die sozialen, die demokratischen Notwendigkeiten in diesen Prozeß implantieren? Das ist die entscheidende Frage, auf die man Antworten finden muß. Es muß der Kampf um die soziale und demokratische Regulierung dieses Prozesses stattfinden. Und diese Regulierung stellt natürlich die Frage nach den Instrumenten. Auf welcher Ebene kann denn von den reichen westlichen Ländern dieser Kampf geführt werden? Daß wir alle in unseren Nationalgesellschaften, in unseren Nationalstaaten sitzen bleiben und darauf setzen, eine Assoziation hinzubekommen, mehr oder weniger einen gemeinsamen Markt? Oder daß wir darauf setzen, eine politisch handlungsfähige Ebene hinzubekommen? Und da finde ich vieles von dem, was gegenwärtig im Zusammenhang mit Europa, mit Euro, in Frankreich, in Deutschland, in Großbritannien von der demokratischen Linken diskutiert wird, kurzsichtig angesichts dieser Regulierungserfordernisse des Prozesses der Globalisierung unter sozialen und demokratischen Gesichtspunkten. Weil ich der festen Überzeugung bin, daß, wenn wir nicht eine neue, eine europäische Handlungsebene bekommen, wir keine Chance haben, in diesen Prozeß wirklich regulierend einzugreifen. Dann werden wir in unseren Nationalökonomien und Nationalgesellschaften Objekt dieses Prozesses, aber kaum gestaltendes Subjekt werden können.

Bourdieu: Wir haben das Problem der Konstruktion des europäischen Staates. Die Frage ist, soll der um eine Bank herum aufgebaut werden, um einen Nicht- Staat? Wenn wir keinen Staat wollen, sollten wir sagen, daß wir eine Bank wollen. Wenn wir aber einen Staat wollen, dann sollten wir sagen, daß wir einen Staat wollen, der diese Bank kontrolliert. Um diesen Staat aufzubauen, muß man auf den Nationenstaat verzichten. Das ist tautologisch. Aber wer kann denn diesen supranationalen Staat errichten? Das können doch nur die Nationalstaaten sein. Wie kann man dann die einzelnen Staaten beeinflussen? Wie kann man vorgehen, damit sie die Kurzsichtigkeit, ihre unmittelbare Konkurrenz, aufgeben und zu einem kollektiven Projekt kommen, in dem die besten Werte der einzelnen Staaten zusammengefaßt werden? Wie kann man also einen Staat aufbauen auf der Grundlage des Verzichts auf den Nationalstaat? Welche Mobilisierungsformen gibt es hier? Nichts ist schwieriger als eine Mobilisierung auf europäischer Ebene. Die Mobilisierungsstrukturen sind national. Das wenige Internationale ist zerstört worden durch Stalin, durch die sowjetischen Elemente. Wie kann man mit nationalen Strukturen, Verbänden international vorgehen, das ist die Schwierigkeit. Wir müssen die Technokraten in Brüssel jetzt bloßstellen, dazu ist die Zeit jetzt reif. Die Brüsseler Technokraten führen wie die Juristen im 16. Jahrhundert dazu, daß ein supranationaler Staat aufgebaut wird, der zu einer Entstaatlichung der Politik führt. Wie kann man Druck auf die Technokraten ausüben? Das ist eine konkret politische Frage.

Beck: Nach meinem Eindruck sind die Fragen, die Sie an den Staat stellen, so schwer zu beantworten, weil unsere Theorien, unsere Vorstellungswelt weitgehend auf den Nationalstaat festgelegt sind. All das, was Sie genannt haben – soziale Sicherheiten, Grundrechte, Freiheiten wie militärische Aufrüstung, Souveränität –, ist am Nationalstaat festgemacht. Es ist außerordentlich schwer, von dieser Prämisse wegzukommen. Es ist wichtig, daß man Europa nicht nach dem Bild der Vereinigten Staaten von Amerika als Vereinigte Staaten von Europa denkt. Man sollte Europa vielmehr zentral als Antwort auf die Globalisierungsfragen entwerfen. Dabei müssen wir einen Schritt zurückgehen. Denn der vielbeschworene Gegner, der Neoliberalismus, ist ja eine Politik, die sich als solche nicht zu erkennen gibt. Es gibt ja nicht den Weltmarkt, es gibt nur politische Akteure, die versuchen, entsprechende Regelungen durchzusetzen. Der Neoliberalismus ist ein bestimmtes Projekt von einzelnen Institutionen. Ein politisches Projekt, das man als solches aufdecken muß und mit politischen Projekten beantworten muß. Ich glaube schon, daß die Politik der Deregulierung, die nicht nur für Europa, sondern für den gesamten Bereich der transnationalen Organisationen typisch ist, in Frage gestellt werden muß durch eine Politik der Reregulierung im Sinne sozialer und ökologischer Standards, die eingeführt werden müssen. In dem Maße, in dem eine solche Politik verbindlich gemacht werden kann, würde sie nicht nur als eine Behinderung, sondern als eine Kanalisierung des Marktes begriffen werden. Europa müßte als Antwort auf diese Art der Globalisierung formuliert werden. Deshalb müßte man auch davon wegkommen, Europa als Nationalstaat zu entwerfen. Statt dessen müßte der Kooperationsbegriff, das transnationale Geflecht zwischen Staaten ins Zentrum gerückt werden.

Noch eine Anmerkung zur Möglichkeit transnationaler Mobilisierung. Ich bin beeindruckt von Studien, in denen Globalisierung nicht nur als ein Makrophänomen dargestellt wird, sondern als ein Phänomen, das Bestandteil des Alltags, der alltäglichen Biographien und Sozialstrukturen vor Ort ist. Darin wird aufgezeigt, daß die Annahme, daß Gemeinschaft ortsgebunden sei, im Zuge der Globalisierungsprozesse historisch aufgehoben wird. Es gibt so etwas wie transnationale Gemeinschaften, wobei das natürlich ein etwas falscher Begriff ist, Netzwerke und soziale Räume. Wie sich das im Alltag abspielt, mit welchen Krisen und Möglichkeiten, müssen wir erst erkunden. Denn das ist der Hintergrund für die Frage, wie eine transnationale, eine transkulturelle Mobilisierung möglich ist.

Fischer: Ich teile viele von Pierre Bourdieus Vorbehalten, wenn er zum Beispiel kritisiert, Europa wird um eine Bank herum aufgebaut. Die Frage ist nur: Welche Konsequenzen zieht man daraus? Auch ich hätte mir als ersten Schritt nicht Maastricht, sondern einen politischen Integrationsprozeß gewünscht. Aber brechen wir deshalb diese erste wirkliche Souveränitätsübertragung auf die europäische Ebene ab? Das hielte ich für falsch. Ansonsten ist die Kritik richtig, ich möchte sie anhand von drei Punkten ergänzen.

Erstens: die Euro-Debatte wird in allen nationalen Gesellschaften ähnlich geführt. Darin liegt ein Vorteil. Vielleicht gelingt es ja zum erstenmal, eine europäische Debatte aus der Innenpolitik der jeweiligen Nationalkulturen herauszuführen. Zweitens: Der europäische Arbeitsmarkt wirft als ein nichtregulierter mehr und mehr Probleme auf. Portugiesische Bauarbeiter werden hier eingesetzt, afrikanische Bauarbeiter in Portugal, deutsche Bauarbeiter sind beschäftigungslos. Das führt jetzt zum erstenmal zu der Debatte, ob man den Weg zurückgeht und die Grenzen wieder dicht macht oder einen Schritt vorangeht und eine Regulierung des europäischen Arbeitsmarktes ins Auge faßt. Ein Drittes: Chirac mußte während der Moruroa-Auseinandersetzung 1995 feststellen, daß die europäische Binnenintegration weiter vorangeschritten ist als 1965 zu de Gaulles Zeiten. Die Atomtests wurden so nicht mehr hingenommen.

Ich will anhand dieser drei Punkte klarmachen, daß um den Aufbau einer Euro-Währung herum eine europäische Debatte beginnt. Sie kann dazu genutzt werden, nicht bei der Bank stehenzubleiben, sondern zu einer europäischen Verfassungsdiskussion zu kommen. Wir brauchen eine europäische Grundrechtsdefinition.

Eine nationale Mobilisierungsstruktur macht die Sache ungemein schwer. Aber, Pierre Bourdieu, die Auseinandersetzung um den Euro bietet die große Chance, daß wir zum erstenmal eine gesamteuropäische demokratische Debatte bekommen.

Beck: Bei der Debatte um Europa müssen wir uns über zentrale Institutionen klar werden, die über den nationalstaatlichen Raum hinausführen und die entwickelt werden müssen. Dabei möchte ich die Rechtsinstitutionen ins Zentrum stellen. Alle Formen des transnationalen Rechts und des Rechtsstaats sind außerordentlich wichtig, weil damit ein Eckpfeiler der Demokratie entsteht. Darüber hinaus sind Institutionen zu nennen, die die Kooperation der Staaten miteinander betreffen, etwa in den Bereichen Arbeitsmarkt, Migration, ökologische Steuerreform. Die Weiterentwicklung dieser Institutionen läßt Strukturen entstehen, indem auf der einen Seite zwar die Unverzichtbarkeit des Nationalstaates noch mal sichtbar wird, aber darüber hinaus ein neues Geflecht an Institutionen entsteht, das auch wiederum über Kooperation neue politische Handlungsmöglichkeiten im nationalen Raum entstehen läßt.

Bourdieu: Im Bereich der Konzepte hat es eine sehr deutsche Zurückhaltung bezüglich des Staatsbegriffs gegeben. Es gab eine Ablehnung der nationalen Vertretung. Wir, unsere mentalen Strukturen, sind Produkt der Staaten, in denen wir leben, und wir haben eine Vision des Staates, die auch wiederum das Produkt unseres Staates ist. Auch die Jugend eines Staates ist ein wichtiges Element, um eine Voraussage zu treffen über die mögliche Konstruktion des europäischen Staates. Es gibt einen europäischen Staat, den man konstruieren kann, der aber nichts mit dem Staatskonzept von heute zu tun hat. Wir wissen nicht, was konstruiert werden wird. Aber wir müssen die politische Aktion orientieren auf der Grundlage des Wissens, das wir von der Jugend des jeweiligen Staates haben.

Was können Intellektuelle wie wir bewirken in dieser schwierigen Situation? Nun, wir können einen Beitrag dazu leisten, daß ein intellektueller Raum geschaffen wird. Ich komme zur Erläuterung auf Herrn Tietmeyer zurück. Herr Tietmeyer ist mir so was von egal. Ich erzähle das nicht, um meine historischen Errungenschaften darzulegen. Aber wenn man man eine soziologische Intuition hat, dann war es die eines französischen Intellektuellen, der einen deutschen Banker attackiert hat. Das war die Rekonstruktion einer klassischen Struktur im Denken des 19. Jahrhunderts. Baudelaire hat die Bourgeois attackiert. Über diesen Weg kann man Diskussionen initiieren, so muß man vorgehen. Wir brauchen eine Debatte, wir schaffen ein transnationales Feld.

Welchen Beitrag können wir Soziologen leisten? Wir müssen in der Lage sein, politische Situationen vorauszusehen, um dann unsere Aktionen entsprechend abzustimmen. Wir können, was schwierig ist, gemeinsam in internationalen Teams Orientierungsschwerpunkte setzen, die realistisch sind im Hinblick auf die politische Aktion. Wir müssen Vorschläge kreieren können, die vom Europäischen Parlament dann diskutiert werden. Wir brauchen ein Beobachtungsgremium, das die europäischen Institutionen kritisch begleitet. Dazu gehörte eine europäische Universität. Der europäische Gewerkschaftsbund muß gestärkt werden. Wir brauchen eine Charta der Immigration. Das ist ein ganzes Programm, das ich hier vorstelle.

Fischer: Eine Vorbemerkung an Pierre Bourdieu zum Prinzip Tietmeyer. Es gibt einen Unterschied in der Betrachtung der Bundesbank und damit ihres Präsidenten. Herr Tietmeyer ist nur der Stabilität der Mark verpflichtet. Dem muß er gerecht werden, oder er muß zurücktreten. Was ich nur bemerkenswert finde, ist, daß viele Linke meinen, dies sei auch richtig. In Deutschland würde kein Intellektueller darauf kommen, das Modell Tietmeyer anzugreifen.

Der Sieg der neoliberalen Philosophie wirft ein Problem auf. Für mich bedeutet Neoliberalismus keine ökonomische, sondern eine Werteentscheidung. Eine Entscheidung zugunsten des Besitzindividualismus und zuungunsten der sozialen Solidarität. Und daß diese Werteentscheidung so eindeutig ausgefallen ist, ist eines der bedeutendsten Probleme der nachsozialistischen Linken. Es ist für die Rekonstruktion dieser Linken zentral, auf diesen Wertewandel Antworten zu finden, die nicht auf die Vergangenheit zurückgreifen, sondern tragfähige Modelle der Zukunft entwickeln. Bis heute habe ich diese Antworten noch nicht bekommen, aber ich bin da gnadenlos optimistisch. Diese Werteentscheidung wird auf Europa projiziert. Hier wird etwas blauäugig über den nationalen Sozialstaat diskutiert. Europa dient als Antithese für die schönen sozialen Zustände auf nationaler Ebene. Als wenn die Linke ihre Kritik von gestern gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen würde. Der Keynesianismus im Kalten Krieg war im wesentlichen ein Militärkeynesianismus, getragen von der Rüstungsspirale und den entsprechenden Investitionen. Das dürfen wir nicht vergessen. Wenn wir heute über dieses Phänomen reden, dann werden wir nicht rückwärtsgewandt diskutieren können, das mündet ins Reaktionäre. Wir werden die demokratischen und sozialen Verhältnisse zu internationalisieren haben. Und wenn wir dann sagen, wir müssen mit dem Nationalstaat pfleglich umgehen, weil die Linke so schwach ist, dann schütten wir das Kind mit dem Bade aus. Ich bin der festen Überzeugung, jetzt beginnt auf nationaler Ebene, bei der Debatte um den Euro als auch auf europäischer Ebene, die Phase der wirklichen Europäisierung. Dazu gehört die demokratische und soziale Ausgestaltung. Dazu gehört auch, daß Europa als Wirtschaftsraum in der Lage ist, eigene Standards zu setzen. Unter den Bedingungen der Globalisierung ist die Alternative nicht, werden wir Europäer oder bleiben wir gute demokratische Deutsche, Franzosen etc., sondern die Alternative lautet: Folgen wir dem Modell Tietmeyer und verteidigen die Mark gegen den Übergang auf die europäische Ebene, werden wir vom Dollarraum bestimmt werden. Und zwar nachdrücklich und nachhaltig. Ich möchte nicht einem Antiamerikanismus anhängen, aber wenn wir unsere eigenständige soziale Tradition auch in Zukunft behalten wollen, erfordert das ein Europa, das groß genug ist, die politische Unabhängigkeit zu gewährleisten. All das sind Gründe, mit dem Nationalstaat zwar pfleglich umzugehen, aber sich nicht rückwärtsgewandt auf ihn zurückzuziehen. Wir brauchen eine europäische Verfassungsdebatte, wir brauchen ein soziales Europa, wir brauchen einen politischen Einigungsprozeß. Insgesamt sehe ich im Euro eine Chance, die die Linke nutzen sollte.

Bourdieu: Die Frage, wie sie von den Journalisten gestellt wird – Sind Sie für oder gegen Europa? –, ist eine idiotische Frage. Ein Wissenschaftler muß eine solche Frage erst einmal zerstören. Die Frage lautet doch: Was verstehen Sie unter Europa? Ich bin für Europa, aber nicht für das, was im Maastrichter Vertrag angedeutet wird. Ich bin für ein Europa, in dem nicht nur die Marktkräfte spielen. Die Diskussion um Maastricht kann erst dann Fortschritte machen, wenn auf die Tagesordnung auch die Arbeitsmarktprobleme, die sozialen Fragestellungen aufgenommen werden. Wir müssen jetzt Druck ausüben, weil wir an Europa glauben, weil wir es wollen. Ich muß mich als Bürger bemühen, zu kämpfen, damit es Europa gibt, aber unter bestimmten Voraussetzungen, mit bestimmten Vorbehalten. Menschenrechte, Immigrationsrechte, Arbeitnehmerschutz, soziale Sicherheit, Beschränkung der Arbeitszeit auf 35 Stunden, all diese Debatten müssen gleichzeitig erfolgen. Was Tietmeyer gezeigt hat, ist doch dieser deterministische Fatalismus, der da lautet: Wir schaffen das währungspolitische Europa, und daraus wird sich das künftige herrliche Europa ableiten lassen. Ein Europa, das so abgeleitet wird, ist nicht das Europa, das ich möchte.

Beck: Ein Gesichtspunkt, der bislang nur untergründig eine Rolle gespielt hat, bestimmt ganz wesentlich unsere Debatte: die Arbeitslosigkeit, die Europa sehr bedrückt. Sie ist sicher nicht auf Globalisierung zurückzuführen, sondern hat vielfältige Ursachen, die insbesondere auch in den Rationalisierungsmaßnahmen liegen. Es ist wichtig zu erkennen, daß die Entwicklung der Produktivkräfte so groß ist, daß wir mit sehr viel weniger Arbeitskräften mehr Güter und Dienstleistungen erzeugen können. Wir können nicht davon ausgehen, daß wir die Arbeitsgesellschaft in alle Zukunft verlängern. Wir haben es in allen europäischen Staaten mit einer Umverteilung von Arbeitlosigkeit zu tun. Immer mehr bunte Beschäftigungsverhältnisse werden als Vollbeschäftigung ausgegeben. In Deutschland ist es schon ein Drittel, in England die Hälfte der Beschäftigten, die nicht mehr in den normalen Arbeitsverhältnissen gesichert sind. Wir müssen uns also Gedanken darüber machen, wie Demokratie, wie Integration jenseits der Erwerbsarbeit möglich ist. Diese Frage wurde bislang nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit aufgeworfen. Für sie gibt es in dem alten Spektrum von Rechts und Links keine gültigen Antworten. Es geht nicht darum, diesen Dualismus zu leugnen, sondern um eine linke Position, die auf einer neuen Stufe reformuliert wird. Dazu bedarf es Anstrengungen, die den Begriff einer zweiten Moderne rechtfertigen.

Fischer: Die demokratische Linke ist unter dem Gesichtspunkt der Mobilisierung der gesellschaftlichen und ökonomischen Produktivität zurückgefallen. Deshalb erscheint die Linke gegenwärtig auch so grau und Status-quo-verteidigend. Mit diesem Vorhalt verbirgt sich normalerweise der Anklang, sozial sei unmodern. Das meine ich nicht. Sondern das Soziale muß neu definiert werden. Der Begriff der Solidarität muß unter den Bedingungen der Globalisierung neu gefunden werden. Wir schreiben nicht mehr die siebziger Jahre. Das alte Imperialismusmodell funktioniert nicht mehr. Dennoch gibt es jede Menge Abhängigkeiten und Ausbeutung. Der Neoliberalismus hat neue Arbeitsformen produziert. Die Linke ist aber nicht in der Lage, daraus die Konsequenz zu ziehen und zu sagen: Wenn hier ein neues Arbeitsverhältnis entsteht, wenn die neue Produktivitätsideologie den Arbeitnehmer in neuer Form vereinnahmt, warum ist dann die Linke nicht in der Lage, die Eigentumsfrage neu zu stellen? Nicht rückwärtsgewandt, sondern vorwärtsgewandt. Warum nicht den Übergang von der Mitbestimmungs- zur Miteigentümergesellschaft?

Wenn Flexibilität verlangt wird, das heißt universelle Verfügbarkeit von Arbeitnehmern, warum schafft die Linke es nicht, diese Flexibilität in mehr Selbstbestimmungsrecht zu überführen? So stelle ich mir die Rekonstruktion einer demokratischen Linken unter den Bedingungen der Globalisierung vor. Textbearbeitung: Dieter Rulff

Fotos: Bernd Bostelmann