Abgeordnete ignorieren Azubi-Krise

■ Es fehlen 15.000 Lehrstellen. Aber die Parlamentssitze bleiben leer, als in einer Aktuellen Stunde debattiert wird

Es war die „wichtigste gesellschaftspolitische Debatte“ im Abgeordnetenhaus. Darin stimmten alle RednerInnen in der aktuellen Stunde über die dramatische Ausbildungskrise überein. Nach den letzten amtlichen Zahlen fehlten Ende Mai 15.000 Lehrstellen in der Stadt. Aber die Abgeordneten jenseits des Rednerpults interessierte das nicht: 18 Abgeordnete der CDU, rund 20 der SPD und sieben der PDS verloren sich im Plenumsrund; lediglich die 30 Bündnisgrünen waren mehrheitlich auf ihren Plätzen.

Dabei ist die Situation so schlimm wie nie: 11.678 Stellen zur beruflichen Ausbildung bieten die Berliner Lehrherren und -frauen an. Aber 26.695 SchulabgängerInnen möchten gerne Azubis werden. Die bündnisgrüne Sybill Klotz beschrieb, was aus diesem Wunsch nach einer Lehrstelle werden kann: Hunderte, Tausende junge Leute wenden sich ab von einem System, das ihnen den Eintritt in Lohn und Brot und Beruf nicht gewähren kann. Sie gehen direkt zum Sozialamt, stehen auf der Straße. Mit den Drogen- und Kriminalitätskarrieren der letzten großen Lehrstellenkrise der 70er Jahre haben soziale Auffangeinrichtungen noch heute zu tun. „Eine gesellschaftliche Katastrophe droht“, sagten Sybill Klotz und Stefan Liebich (PDS) übereinstimmend voraus.

Die Politik ist offensichtlich hilflos, mit dieser Katastrophe umzugehen. Siegfried Helias (CDU), Arbeitsmarktexperte und Kenner der Szenerie, sprach emphatisch und etwa zwanzigmal von „unseren jungen Menschen“. Helias lobte die Wirtschaft, weil sie 7.000 Ausbildungsplätze mehr geschaffen habe. Aber er lehnte die einzige noch nicht ergriffene politische Maßnahme rundweg ab: Einen Lastenausgleich zwischen Betrieben, die nicht ausbilden, zugunsten ausbildender Lehrherren und -frauen. Alle anderen Parteien forderten eine solche Umlage, die von nichtausbildenden Betrieben eine Lehrstellenabgabe einfordert.

Arbeitssenatorin Christine Bergmann (SPD) widerlegte ihren Koalitionspartner: Die Anstrengungen der Wirtschaft seien löblich, „aber wir wissen auch, daß es nicht reicht.“ Die Betriebe haben 7.000 neue Lehrstellen geschaffen (heute 58.000 gegenüber 51.000 im Jahr 1992). Bloß fußt dieses Mehr auf massiven Subventionen durch den Staat. 90 Millionen Mark gibt allein der Senat aus, um die alljährliche Lehrstellenkrise abzuwenden.

Helias' „junge Menschen“ auf der Tribüne waren entsetzt. Ronald (27) empfand die Debatte als „nicht glaubhaft“. Die zwanzigjährige Jessica fühlte sich „nicht ernstgenommen.“ „Da fehlt doch schon der Respekt, sich überhaupt zuzuhören“, kommentierte sie das gähnend leere Plenum und das offenbare Desinteresse der Abgeordneten. Besonders enttäuscht waren die „jungen Menschen“ von einer CDU-Abgeordneten. Die hatte die Jugendgruppe tags zuvor empfangen und betont, wie wichtig ihr die Arbeit im Parlament und die Lehrstellenfrage sei. Gestern fehlte die Abgeordnete während der Aktuellen Stunde. Christian Füller