Ohne jede Sentimentalität

■ Eine Frau und ihr Aidstest: „Woanders scheint nachts die Sonne“ (20.45 Uhr, arte)

Vera Wagenknecht baut Schiffe. In einer Stunde wird sie einer Delegation chinesischer Reeder ihr neuestes Modell vorstellen – und gewiß auch verkaufen. Eifrig hat sie schon Mandarin gelernt und Lehren des Weisen Lao-tse, und eine deutsche Schule für Töchterchen Tatajana, genannt Taddy, hat sie auch schon gefunden. So sicher ist sie sich, daß es bald zum Schiffbau nach Shanghai gehen soll. Vera ist sozusagen „auf großer Fahrt“. Da kommt der Schuß vor den Bug. Vor der entscheidenden Konferenz hatte sie nur eben rasch noch die Ergebnisse einer Routineuntersuchung für die Versicherung abholen wollen – statt dessen hat der Arzt eine böse Überraschung für sie: Vera ist HIV-positiv.

Ein brandaktuelles Thema, das bei uns im Alltag aber so gut wie gar nicht präsent ist – geschweige denn im Fernsehen, wenn man von den paar Verhütungsspots mal absieht.

Was im Film nun folgt, erzählt der vielfach dekorierte Filmemacher Rolf Schübel („Rote Fahnen sieht man besser“, „Nachruf auf eine Bestie“, „Das Heimweh des Walerjan Wrobel“, „2 1/2“) zusammen mit Koautorin Ruth Toma sehr einfühlsam, doch ohne jede Sentmentalität und Rührseligkeit. Eine Geschichte mit „Bauch und Kopf“, wie Schübel sagt. Auch die Hauptdarstellerin Julia Jäger, Theaterschauspielerin aus Leipzig und Max-Ophüls- Preisträgerin, meistert ihren Part unprätentiös eindringlich: Die junge Powerfrau versucht, mit Angst, Verzweiflung und schließlich Wut über das Ausgeliefertsein zurechtzukommen und mit einer Lebensplanung, die von nun an unter dem Vorzeichen Aids steht. Dabei ist es keineswegs nur die stigmatisierte Krankheit, die Vera mit Vorurteilen konfrontiert, den eigenen und denen anderer – etwa in dem Hotel am Meer, wo man sie knappkantig rauswirft, weil sich andere Gäste angeblich belästigt fühlen.

Die kleine Taddy (Gesche Blume-Werry) wird bald ein neues Zuhause brauchen. Die Frage, wer sich später um das Kind kümmern könnte, nutzt Regisseur Schübel wie ein Prisma, in dem sich sehr viele fragwürdige Muster individuellen und gesellschaftlichen Zusammenlebens brechen: die Beziehung zur Freundin, die an Veras Stelle den Shanghai-Job bekommt. Die zur anderen Freundin, der Familienfrau, die ihr die Tür nicht mehr aufmacht. Die zum geschiedenen Ehemann, den sie verlassen hatte, weil er nie Zeit für Taddy hat und auch jetzt nicht über seinen Schatten springen kannn. Das Verhalten des Chefs, der sie abschreibt, weil sie nun öfter mal fehlt.

Die Bekanntschaft mit den schwulen Nachbarn (Henry Arnold, „Die zweite Heimat“, und Sebastian Koch, „Die Elsässer“), die schon mal Ehekrach haben, aber Taddy mögen und auch für sie selbst die einzigen sind, mit denen sie reden kann. Das Verhältnis zum eigenen Vater (Rolf Becker), der hilfsbereit ist, aber die wesentlichen Dinge nie anspricht. Das Verhältnis von Eltern und Kindern, von Erwachsenen zu Kindern überhaupt.

Am Ende ist es Taddy, das Kind, das Vera den Weg zeigt: nicht nur zu seinen „Aushelfeeltern“, die es sich in dem Schwulenpaar Harry und Pit selber erwählt, sondern auch dorthin, „wo nachts die Sonne scheint“, auf die andere Seite des Erdballs: Vera kommt doch noch nach Shanghai.

„Shanghai“ ist auch Schübels Originalfilmtitel. Doch das ZDF, das über diese arte-Koproduktion gebietet, meinte, ihn für sich gepachtet zu haben. Es will den Städtenamen später für eine Serie verwenden. Ulla Küspert