Procedure 769

■ Das Leben nach dem Tod: Doku-Filmer Jaap van Hoewijk hat die "Zeugen einer Hinrichtung" besucht (23 Uhr, WDR)

Die offiziellen famous last words von Robert Alton Harris vor seiner Hinrichtung lauten: „You can be a king or a street sweeper – but everybody dances with the Grim Reaper.“

Wer wüßte zu sagen, ob Harris, als er dem Gefängnisdirektor seine gereimte Botschaft diktierte, zynisch war, weise – oder bloß einfältig? Harris war schließlich weder König noch Straßenkehrer, er war der Ermordung zweier Kinder für schuldig befunden worden. Und ist inzwischen vor allem eines: tot. Nachdem die Gaskammer im kalifornischen Hochsicherheitsgefängnis von San Quentin 25 Jahre lang unbenutzt blieb, wurde sie am Morgen des 21. April 1992 wieder in Betrieb genommen, um Harris in Anwesenheit von 49 Zeugen hinzurichten.

„Procedure 769“ nennt amerikanisches Beamtendeutsch die Tötungsprozedur. „Procedure 769“ nennt auch Jaap van Hoewijk seine Dokumentation. Doch der WDR tat gut daran, den Untertitel „Zeugen einer Hinrichtung“ zum Titel zu machen, denn van Hoewijks 80 lange Minuten langer Film widmet sich Gewalttäter und Gewalttat ebenso wie dem sich daran anschließenden staatlichen Prozedere nur am Rande – auf dem finalen Weg zur Gaskammer ist schließlich nichts uninteressanter als Hinrichtungsbürokratie – und lenkt sein Hauptaugenmerk auf diejenigen, die dem Vollzug des Todesurteils beiwohnen durften.

11 der 49 Augenzeugen hat von Hoewijk Jahre nach der Vollstreckung aufgesucht, um ihnen vor der laufenden Kamera Gelegenheit zu geben, ihre Eindrücke und Erinnerungen ins Bewußtsein zu rufen: Zu Wort kommen Freunde und Verwandte von Mord- und Hinrichtungsopfer ebenso wie Harris' psychologischer Betreuer, ein Journalist und der Gefängnisdirektor.

Minutiös schildern sie ihre gemeinsam verbrachten Stunden vor und während der Exekution; minutiös und kommentarlos reiht van Hoewijk die jeweils elf Detailerinnerungen kaleidoskopisch aneinander, wobei die elfmalige ineinander verschränkte Erinnerung das Erzählte nicht bloß intensiviert, sondern zugleich auch die existentielle Erfahrung der auskunftswilligen Erzähler vermittelbar macht.

Und so, wie es überrascht, wie präzise sich Zeugen auch an Kleinigkeiten erinnern, so erstaunt es, wie unterschiedlich Harris' letzte und allerletzte Lebensäußerungen interpretiert werden: Was den Angehörigen der Mordopfer als smirky smile eines totally happy guy anmutet, erscheint Familie Harris als warm, friendly und peaceful; und wenn der zum Tode Verurteilte in der Gaskammer erstmals „I'm sorry!“ sagt, wird noch immer spekuliert, weswegen.

„Man kann sich nicht vorstellen, wie das war, dazustehen und diesen Mann sterben zu sehen“, sagt einer der Zeugen. Und doch scheint es, als sei es van Hoewijk gelungen, im Diskurs der Zeugengesichter und -worte die präamblisch zitierte unspeakable wrongness (George Orwell) der Todesstrafe zu dokumentieren.

Am Westgate von San Quentin hängt ein Verkehrsschild. „STOP“ steht dort auf oktagonalem Rot. Auch auf dem Asphalt steht es noch einmal geschrieben; in großen, weißen Lettern: „STOP“. Und wer wüßte zu sagen, ob diese famose letzte Botschaft diesseits der Mauern – bezogen auf das, was sich jenseits ereignen darf – einfältig ist, weise oder schlicht zynisch? Christoph Schultheis