■ Kriminalität: Der Ruf nach mehr Obrigkeit ersetzt den Glauben an die Veränderbarkeit der Gesellschaft
: Von New York lernen?

„Gewaltkriminalität steigt in Berlin stark an. Zunahme der Tötungsdelikte um 30 Prozent“, titelte die Berliner Zeitung am vergangenen Montag. Was tun? „Aufräumen wie in New York – Gegen Verbrechen, Drogen und Dreck in deutschen Städten“, empfiehlt der Spiegel. Deshalb fragt Bild: „Wann kriegen wir endlich New Yorker Verhältnisse?“ Die frühere Metropole des Verbrechens, so die Nachricht, ist wieder eine sichere Stadt. Und von Spiegel bis Bild fragen sich alle: Wie haben die das geschafft, die Kriminalitätsrate in sieben Jahren um die Hälfte zu senken? Von New Yorks stahlharten Cops lernen, heißt den Kampf gegen das Böse zu gewinnen.

Und noch ehe eine seriöse Analyse des „Vorbildes New York“ erfolgte, steht bereits die Forderung fest: Auch Deutschland braucht wieder Polizisten, die sich alter Tugenden erinnern und energisch durchgreifen. Wann durfte man das in Deutschland zuletzt widerspruchslos fordern?

Allerdings hat der Wunsch nach New Yorker Verhältnissen einen Schönheitsfehler: Träten sie ein, würde Deutschland in Angst und Schrecken versetzt. Zwar gelang es in New York, die Zahl der Tötungsdelikte von 30 (1992) auf den amerikanischen Durchschnitt von 13 (1996) pro 100.000 Einwohner zu drücken. Sie liegt damit aber immer noch weit über dem bundesdeutschen Durchschnitt. Hier schwankt die Zahl vollendeter Tötungsdelikte pro 100.000 Einwohner seit 20 Jahren zwischen 1,2 bis 1,5. Auch die Zahl der Raubdelikte ist in New York immer noch sechsmal so hoch wie in Deutschland und doppelt so hoch wie in Berlin. Auch an anderer Stelle muß die New-York-Begeisterung gedämpft werden. Die negativen Schlagzeilen aus Deutschland stimmen nur selten. Die Nachricht der Berliner Zeitung, daß die Tötungsdelikte in den ersten fünf Monaten dieses Jahres sprunghaft anstiegen, fußte beispielsweise auf einer falschen Interpretation der Statistik. In Wirklichkeit ging die Zahl der Morde in Berlin 1997, verglichen mit dem Vorjahr, leicht zurück – doch die 1997er Statistik erfaßt auch alte Straftaten aus DDR-Zeiten. Es ist das alte Lied. Je nach Interessenlage lesen Polizeigewerkschaftler, Innenpolitiker oder Journalisten das für sie passende aus der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) heraus. Der komplexen Kriminalitätsentwicklung kommen sie damit allerdings nur selten nahe.

Eine seriöse Analyse zeigt rasch, daß die These „alles wird immer schlimmer“ unhaltbar ist. Es gibt in bestimmten Kriminalitätsbereichen in der Tat beunruhigende Entwicklungen. So steigt die Raub- und Gewaltkriminalität in der Republik seit 1990 sprunghaft an. Diese Entwicklung ist der „realistische Kern“ der aktuellen Verbrechensfurcht und Gewaltdiskussion. Und keine noch so beschönigende Interpretation der Zahlen kommt daran vorbei.

Doch die Frage bleibt: Woran liegt das? Warum nehmen die Raubdelikte zu? Geraubt, so eine alte kriminologische Erkenntnis, wird dort am meisten, wo die Arbeitslosenzahlen davongaloppieren, wo Arme und Reiche räumlich aufeinandertreffen. „In allen zehn von uns untersuchten europäischen Staaten hat die Jugendgewalt zwischen 1985 und 1995 stark zugenommen, vor allem Raub und Körperverletzung“, ermittelte der Kriminologe Christian Pfeiffer. Das Untersuchungsergebnis: Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen Erfolg und Mißerfolg der sozialen Integration junger Männer und der Zahl der Täter. In Österreich, dem Land mit der geringsten Jugendarbeitslosigkeit, ist auch der Kriminalitätsanstieg am geringsten, in Italien, dem EU- Land mit der höchsten Jugendarbeitslosigkeit, am höchsten. Aber diese Einsicht wird gern übersehen. Und der Ruf nach autoritären Interventionen wird lauter.

Angesichts von über 300.000 SchulabgängerInnen in Deutschland, die eine Lehrstelle suchen, angesichts einer Jugendarbeitslosigkeit von über 20 Prozent in der EU und leerer Kassen steht die Gesellschaft nackt da. Und die Bereitschaft, sich von unbequemem Erkenntnisballast zu befreien, steigt. Zum Beispiel von der Einsicht, daß sich Kriminalität nur an den Wurzeln bekämpfen läßt. Doch kann sich die Gesellschaft eine Kriminalprävention, die an den sozialen Ursachen ansetzt, heute wirklich noch leisten? Will die Gesellschaft angesichts des Problembündels und fehlender gesellschaftlicher Alternativen nicht ohnmächtig dem Ansteigen bestimmter Verbrechensbereiche zuschauen, müssen eben die Koordinaten des Diskurses neu verlegt werden.

Den Anfang machten 1993 linksliberale Intellektuelle. Angesichts eskalierender rechtsradikaler Gewalt weigerten sich Hans Magnus Enzensberger, Peter Schneider, Klaus Hartung und andere weiterhin über Ursachen nachzudenken und verfielen in kulturpessimistische Larmoyanz. Rationale Analysen wurden durch die Klage über den Werteverlust der Jugend und die Existenz des Bösen ersetzt, das nur mit entschiedener Härte bekämpft werden könne.

Auf dieser Linie liegt nun auch der aktuelle New-York-Boom in Deutschland – denn dort kämpft man offenbar beherzt gegen das Böse. Doch warum pilgern deutsche Polizeichefs eigentlich trotz der dort nach wie vor hohen Kriminalitätsrate in die USA und nicht in das so viel erfolgreichere Österreich? Wollen sie lernen, wie man in Zukunft trotz Deregulierung der bundesdeutschen Sozialsysteme und Arbeitsmärkte erfolgreich bleibt? Wahrscheinlich.

Um so wichtiger ist es, ein paar Voraussetzungen ins Gedächtnis zu rufen, die bei der gegenwärtigen New-York-Euphorie ausgeblendet werden. Das „Kriminalitätswunder“ New York fällt mit dem US-amerikanischen „Jobwunder“ zusammen, das in den frühen 90er Jahren begann. Seitdem geht die Kriminalität zurück – nicht erst seit 1994, als Polizeichef Bill Bratton seine Untergebenen zu mehr Härte anhielt. Und ohne die Wiederbelebung von Neighbourhoods und viel (ehrenamtlicher) Sozialarbeit mit kriminellen Jugendlichen könnte sich Bratton nicht so viele Orden an die Brust heften.

Auch in Deutschland ist die Kriminalitätsentwicklung keine abschüssige Einbahnstraße. Beispiele, wie Nachbarschaftsinitiativen, Sozial- und Jugendeinrichtungen sowie die Polizei gemeinsam Kriminalitätsschwerpunkte entschärften, gibt es auch in Berlin. In Nordschöneberg gelang es auf diese Weise, die Straßenkriminalität zwischen 1992 und 1994 um die Hälfte auf das Niveau der Vorwendezeit zu reduzieren. Davon kann Bill Bratton noch lange träumen. Eberhard Seidel-Pielen