Alptraum

■ betr.: „Kassen im Clinch – Rück zahlungen der AOK stoßen auf wütende Kritik der Konkurrenz“, taz vom 9./10. 8. 97

I have an Alptraum: Wir sind bei der AOK versichert als BeitragszahlerInnen, haben ein geringes Einkommen und freuen uns das ganze Jahr auf die 870 Mark Rückzahlung, ich ermahne meinen Mann, ja seine Rückenschmerzen mit Aspirin zu kurieren anstatt eine/n Arzt/Ärztin aufzusuchen – die Nebenwirkungen des Aspirin wie Magenbeschwerden und Blutverdünnung verschweige ich ihm taktvoll – und wenn mein Kind mit aufgeschlagenen Knien nach Hause kommt, dann setzt es Ohrfeigen und Heftpflaster und die Ermahnung, die Tetanusspritze könne die mittlerweile schon verplanten 870 Mark gefährden.

So ist das bei uns, aber sehen Sie sich mal meine Freundin A an, die Frau ist bei der TKK versichert und rennt wegen jedem Wehwehchen zum Arzt, ob Schnupfen, Liebeskummer, Sportunfall, Blinddarmentzündung, Wetterfühligkeit oder Depressionen über die weltpolitische Lage, die Frau trägt das alles zum Arzt, hypochondrisch nenne ich das, denn sie strotzt vor Gesundheit und 870 Mark zahlt die TKK nicht, also kann A täglich zum Arzt laufen und sich sogar den Blinddarm herausoperieren lassen!

So ist das bei A., unsere Freundin B. dagegen ist auch bei der AOK versichert, ihre Probleme waren jedoch viel größer als unsere, denn als sie ihr hochfieberndes Kind mit der Feuerwehr und dem Notarzt ins Krankenhaus bringen ließ, [...] da waren die schon von ihrem Mann verplanten 870 Mark natürlich flöten und das Veilchen und die Blutergüsse, die er ihr berechtigterweise für diesen Mangel an Sparsamkeit zufügte, ließ sie lieber gar nicht erst behandeln, es blieb ja auch nur ein eingeklemmter Gesichtsnerv und gegen die höllischen Schmerzen Aspirin. B. hat natürlich die Scheidung in Betracht gezogen, sie hätte dann Sozialhilfe bezogen, wäre bei der AOK versichert geblieben, aber von den 870 Mark hätte sie nie was gesehen, die hätte nämlich das Sozialamt einbehalten, und wenn sie zu oft mit ihren Kids zum Arzt gerannt wäre, hätte sie eine Abmahnung bekommen oder mit Kürzung der Sozialhilfe wegen Leistungserschleichung rechnen müssen. Seit einem Monat ist sie Witwe.[...] Jetzt hat B. eine Heiratsannonce aufgegeben: „Frau sucht Mann, Alter, Aussehen, Beruf unwichtig, nur keinesfalls AOK-versichert.“

So war das bis zu diesem heißen Sommer, da wurde mir täglich übel und ich kotzte, was mein Magen herausbrachte – viel war es nicht, denn ich hatte keinen Appetit – klar, eine kleine Sommergrippe, da geh' ich doch nicht gleich zum Arzt – die 870 Mark, Sie wissen schon – und der Ausschlag war bestimmt nur so 'ne leichte Allgerie, klar, ich wunderte mich, daß mein Mann und mein Kind diesen Ausschlag hatten, aber nicht über ihre Übelkeit – Sommergrippe ist eben ansteckend, reißt euch zusammen, verdammt noch mal! – tja, und als ich dann die Pestbeulen an Achseln und Lenden bemerkte, da war es zu spät. Ich bin gestorben, die Hälfte der Leute in unserem Wohnblock sind gestorben, die waren alle bei der AOK versichert, und ich hatte sie zuerst mit der Jagd nach den 870 Mark und dann mit der Beulenpest infiziert.

Natürlich kam ich in die Hölle, und während mich der Teufel zur Abteilung für MassenmörderInnen geleitete, wurde ich einem Herrn vorgestellt, dessen Hals die Male eines Strickes trug und der sich krampfhaft an einen Geldbeutel klammerte. „Dreißig Silberlinge“, sagte er mir, „ein unwiderstehliches Angebot“ – „870 Mark“, gab ich zurück, „da konnte ich nicht ,nein‘ sagen in meiner finanziellen Lage.“ Kerstin Witt, Berlin