Epocheninventar

Ignorieren, wiederholen, abbrechen: Matthias Polityckis „Weiberroman“ über die Vergeblichkeit männlichen Erwachsenwerdens in den 70ern  ■ Von Jörg Magenau

Kristina, die Neue in der Foto-AG im westfälischen Lengerich, trägt eine Zahnspange und die falschen Jeans (Mustang). Schon deshalb kommt sie eigentlich nicht in Frage. Tanja, die Wiener Disco- Queen, ist absolut unblond, ja schwarzhaarig, und interessiert sich kein bißchen für Fußball. Schon deshalb kommt sie eigentlich nicht in Frage. Katharina, die makellose, angehimmelte Chefstewardeß, verwandelt sich in der gemeinsamen Wohnung im Stuttgarter Bohnenviertel in ein kuschelbedürftiges, kefirzüchtendes kleines Mädchen. Das kommt auf Dauer eigentlich auch nicht in Frage. Wie soll man also lieben? Wie gar – und das wird mit zunehmendem Alter ein immer drängenderes Problem – eine Beziehung führen?

Drei Mädchen respektive Frauen, drei Orte, drei Lebensphasen: Matthias Politycki erzählt im „Weiberroman“ drei Varianten der Schwierigkeit, wie man als eher schmächtiger Jüngling das Dasein im Schatten einer weiblichen Ikone erträgt: Man erträgt es nicht. Drei Variationen auf die immer gleiche Frage, wie sich das Bedürfnis nach Freiheit mit dem nach Nähe in Einklang bringen läßt: kaum. Oder einfach nur drei Versuche, endlich erwachsen zu werden: vergeblich.

Vom feministischen Standpunkt betrachtet ist das alles höchst unkorrekt. Daß der „Weiberroman“ in Wirklichkeit ein Männerroman ist, verrät ja schon der Titel. Gregor Schattschneider, der Ich-Erzähler, ist ausgestattet mit einer kolossalen Hundephobie, mit einem Schleck- und einem Schnüffeltick, der sich schließlich zur komplizierten Hemd- und Socken-Lüft-Marotte auswächst. Trotz höchstpersönlicher Macken – oder gerade dadurch – ist er ein nicht untypischer Vertreter seiner Generation, der sogenannten „78er“, die ja gleich reihenweise mit individuellem, freiheitsversprechendem Lederarmband, mit Maultrommel und Germanistikstudium groß geworden sind.

Geboren zwischen, sagen wir mal, 1955 und 1961 waren sie „für 1968 zu jung“ und gingen als „Generation ohne Eigenschaften“ in die Annalen ein. Was käme auch in Frage als generationenprägendes Kollektiverlebnis anno 1978? Sex Pistols? Die „Schmach von Cordoba“ mit Krankls 3:2 gegen Deutschland? Der letzte VW-Käfer aus Wolfsburg? Und warum überhaupt 78? Tja.

Auch für Gregor reicht es am Ende nur dazu, sich durch die Abwesenheit schlechter Angewohnheiten wenigstens als „Mann ohne negative Eigenschaften“ zu definieren: Nicht mehr im Sitzen pinkeln. Nicht mehr bei offener Klotür pinkeln. Nicht mehr rülpsen. Nicht mehr fragen: „War ich gut?“ Das ist die Quintessenz der Emanzipationsbemühungen 1968ff. – und der Defintionsversuche einer Generation.

Weil er die Unterschätzung seines Jahrgangs ungerecht findet, schrieb Matthias Politycki, 1955 in Karlsruhe geboren, nun in der Zeitschrift Die Woche einen Artikel voll dialektischer Winkelzüge zur Ehrenrettung seiner undefinierbaren Altersgenossen. Endlich sei diese Generation „erwachsen geworden und angekommen in dieser Gesellschaft“, heißt es da, und habe sich nun dem „Ernst einer gesellschaftlichen Aufgabe“ zu stellen: „etwa als Missing Link zwischen 68ern und 89ern“. Das klingt, als wolle einer endlich seinen Platz beanspruchen. Das klingt nach Anpassungsbereitschaft und Geborgenheitssehnsucht. Sollte das das aktuelle Kennzeichen der 78er sein?

Polityckis Roman ist mit solch schlichtem, sommerlochfüllendem Gequackel nicht zu fassen. Er erzählt temporeich, gekonnt unangestrengt und vor allem selbstironisch eine kompliziertere Geschichte. Sie beginnt 1973 in Lengerich. Es ist die Zeit von Clogs, Batik-T-Shirts und Schlaghosen, von Bee Gees, Pink Floyd, Ike & Tina Turner. Gregor ist 17 und überlegt, ob er nicht allmählich von Seiten- auf Mittelscheitel umstellen sollte. Mit der lang ersehnten John-Lennon-Nickelbrille fühlt er sich so großartig, daß „sogar die Pickel in eine sinnvolle Anordnung rutschen“. Daran, daß seine Freunde breitere Schultern, jede Menge Haare auf kräftiger Brust und überhaupt viel mehr Erfahrung besitzen, kann das nichts ändern. Auch von „Weibern“ hat er bleibend keine Ahnung. Nur Ecki ist noch ahnungsloser, aber der ist auch drei Jahre jünger.

Gregors einzige Chance, auf die von sämtlichen Freunden umbalzte Kristina Eindruck zu machen, liegt deshalb im geduldigen Warten. Das bedeutet zwei Jahre versteckten Anschmachtens aus der Ferne. Zwei schmerzliche, zum Gedicht drängende Jahre, in denen jede Andeutung eines Lächelns als schicksalschweres Zeichen gedeutet werden muß und der Verzehr derselben Pizza vielleicht schon eine Offenbarung ist.

Politycki trägt ein ganzes Arsenal von Erinnerungen zusammen und pinselt sie liebevoll aus: Die Partys in matratzenbelegten, rotlichtschummrigen Kellerräumen (Kommt sie, oder kommt sie nicht?). Das oberwichtige Einkreiden des Queues beim von Anfang an höchst fachmännischen Auftreten am Billardtisch (Schaut sie her oder nicht?). Im Plattenschrank der Angebeteten (Ist sie nun blond oder nicht?) findet sich das obligatorische „Seasons in the sun“, an der Wand ihres Zimmers der unverzichtbare Setzkasten, gefüllt mit Miniatur-Bügeleisen, Bleistiftspitzern und anderen Weltspartagskostbarkeiten.

Sicher: Aus ihrem Inventar und ihrer Plattenkollektion läßt sich, wenn man will, eine Generation konstruieren. Doch darum geht es nicht. Die quälende Verklemmtheit, rituelle Großkotzigkeit und pathetische Sehnsucht der Pubertät bleiben sich doch immer gleich. Deshalb ist der „Weiberroman“ vor allem ein Buch übers männliche Erwachsenwerden in der westdeutschen Provinz, mit viel Zeitkolorit, aber von allgemeiner Gültigkeit.

Provinz ist auch in Österreich, in Wien zum Beispiel. Statt privater Partykeller besucht man nun offiziell den „Popklub“, um sich breitbeinig auf der Tanzfläche zu verankern und hingebungsvoll die Seele aus dem Leib zu schütteln, wenn der DJ endlich die Stones auflegt. In Wien läßt sich Ende der 70er Jahre tatsächlich ohne „Rote Zellen“ studieren. Niemand bezieht sich auf die Frankfurter Schule, nirgends ein Happening. Und die „schönen Wienerinnen“, wie die „Weiber“ jetzt heißen, tragen keine Latzhosen und keine Clogs, sondern geschlitzte Kleider und High Heels.

Kein Wunder, daß Gregor dort von „Deutschem Herbst“, Staatshysterie und Sympathisantenhatz nicht viel mitbekommt. Vor der deutschen Botschaft soll er zwar die Hosen runterlassen, um zu beweisen, daß er keine verdächtige Zündschnur dabei hat, und er ahnt, „daß die goldenen Jahre vorbei“ sind. Er redet so schnoddrig daher, wie es damals üblich war („da hatten die den Ponto von der Dresdner Bank längst umgelegt“), erinnert sich aber nur ungefähr und gelangweilt an die Details. Politycki hat keinen RAF-Roman geschrieben, sondern einen Weiberroman, und das ist ja auch viel lustiger.

Gregor ist voll und ganz damit beschäftigt, den Namen Tanja „wenigstens aus jedem zweiten Satz herauszuhalten“, was ganz schön schwierig ist für einen, der vollkommen überfordert ist von „so viel Frau“. Denn warum ist Tanja, das Model, das sämtliche Männerblicke auf sich zu ziehen pflegt, ausgerechnet mit ihm, Gregor Schattschneider aus Lengerich, zusammen? Wie soll eine Beziehung gelingen, wenn Tanja ihn für „unzasteat“ und „unvaduam“ hält, er aber um ein kantiges, faltenreiches Clint-Eastwood-Image ringt? Wie kommt er los von ihr, die auf der mit Freund Ecki erstellten ewigen Bestenliste doch allenfalls Platz vier erreicht? Die drängenden Fragen der Zeit sind, wie meistens, unlösbar.

Auch im dritten Teil führt Politycki Zeitgeschichte nur ein, um sich ihr lustvoll zu verweigern. Gregor ist nun 30 Jahre alt und verdient sein Geld als EDV-Hiwi an der Uni in Stuttgart. Das heißt: eigentlich verdient Katharina sein Geld. Er sitzt schriftstellernd zu Hause und versucht, anschwellende Beziehungsprobleme mit MS-DOS-Befehlen in den Griff zu bekommen: IGNORIEREN? WIEDERHOLEN? ABBRECHEN? Er entscheidet sich für Ausbrechen, flirtet mit einer Wurstverkäuferin, die breitestes Schwäbisch spricht, demonstrativ darauf verzichtet, die Beine zu rasieren, und schon deshalb eigentlich nicht in Frage kommt. Wie soll man sich selbst jemals begreifen? Als Katharina schließlich auszieht, meldet das Radio den Mauerfall. Aber Berlin ist weit weg und das eigene Elend allemal wichtiger als die deutsche Einheit. Ein Weiberroman kann kein Wenderoman sein.

Politycki erzählt schwungvoll und witzig, formal und sprachlich innovativ, arbeitet mit Neologismen, dialektalen Einsprengseln, Wiederholungen und elliptischen Sätzen. Der Text gliedert sich in kleine Absätze, die jeweils den ersten Halbsatz als kursiv gesetzte Überschrift erhalten – Arno Schmidt läßt grüßen. Das ist zunächst gewöhnungsbedürftig, entwickelt aber eine enorme Sogkraft: Deutsche Gegenwartsliteratur muß kein bißchen langweilig sein. Und weil Polityckis Erzähllust nicht so leicht zu befriedigen ist, baut er noch eine Autor- und eine Herausgeberfiktion als kleinen Mehrwert ein – ein listiges Spiel.

Angeblich hat nämlich Schattschneider selbst den „Weiberroman“ verfaßt, ist aber kurz vor Fertigstellung spurlos verschwunden. Zuvor hat er im Manuskript herumgekürzt und pornographische Stellen geschwärzt, so daß das fertige Buch aussieht, als käme es aus der Gauck-Behörde.

Der Verlag übertrug die Herausgabe der Notizen an den zum Germanisten gereiften Dr. Eckart Beinhofer – Gregors alten Freund Ecki. Der schreibt ein editorisches Nachwort, ordnet die Fragmente zur historisch-kritischen Gesamtausgabe und schaltet sich mit zahlreichen Fußnoten ein: Pedantisch korrigiert er Unstimmigkeiten, verbessert stilistische Mängel und fügt imageverbessernde Bemerkungen in eigener Sache ein. Doch auch Beinhofer verschwindet spurlos, so daß schließlich ein gewisser Matthias Politycki einspringt. Er streicht ein paar Kommas und schreibt seinen Namen auf den Buchdeckel, fertig: So sind sie, die 78er.

Die foucaultgeschulten Leser (welcher 78er wäre das nicht?) können nun ausgiebig über das Verschwinden des Autors und die Bedeutung des Autornamens nachdenken: Ihnen bleibt nichts erspart. Der entsetzte Rezensent findet unterdessen im „Anhang“ einen Klappentext-Entwurf von Schattschneiders Hand, in dem schon alles steht, was sich in einer Rezension so schreiben läßt: Der „Weiberroman“, heißt es da, sei ein Roman, der es in sich habe als „Hohelied auf die Frauen, als frappierend scharf konturierte Antwort auf die Frage, warum es so aberwitzig wunderbar und schrecklich zugeht zwischen Männern und Frauen“. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Polityckis Spiel geht auf. Was für ein hundsgemeiner, hinterhältiger Roman.

Matthias Politycki: „Weiberroman“. Luchterhand Verlag, München 1997, 421 Seiten, 44 DM