Fremde Kids zum Kaffee bitten

Wer kann, zieht weg. Wer nicht kann, würde es gerne: Wie ein Modellprojekt in einem Berliner Neubaugebiet den Bewohnern helfen soll, im Kiez zu bleiben und aus einer Abwärtsspirale herauszukommen  ■ Von Vera Gaserow

Die Marlboro locker in den Mundwinkel gehängt, den Blick trotzig-müde in die Gegend geschickt – er könnte der kleine Bruder von James Dean sein. Aber Dennis ist zwölf, und einen Herrn Dean kennt er nicht. „Zu Hause“, sagt Dennis, „liegt wieder ein Brief von der Polizei. Wahrscheinlich der Diebstahl im Supermarkt. Vielleicht war's aber auch die Baustellensache.“ Kinder wie Dennis haben hier auch schon in Treppenhäuser geschissen, aus Langeweile.

„Kommen Sie“, winkt Frau Maus am Ehebett vorbei ans Fenster, „hier, das ist unsere Oase“, ein liebevoll gepflegter Innenhof, hübsch anzusehen, betreten verboten. Wer ins Grün will, muß sich vom Hauswart das mannshohe Gitter aufsperren lassen. „Die Wohnungen“, sagt Frau Maus und rückt das Bänkchen für Zwerghund Kitty ans Fenster, „sind ja schön. Aber abends können sie hier nicht mehr raus. Da stehn die Türkenbengel, zehn, fünfzehn Stück, und da sagen Sie mal was, wenn die pöbeln. Unser Haus ist ja in Ordnung, aber da drüben können Sie nur noch eine Granate reinwerfen.“ Frau Maus ist Mieterin der ersten Stunde, „die ersten Jahre war's schön, aber jetzt können Sie nur noch wegziehen.“ Das sagt Frau Maus seit zehn Jahren.

„Es gibt ausländische Jugendliche“, sagt Polizeihauptkommissar Erhardt, „die legen ein Gehabe an den Tag, als ob ihnen das Gebiet gehört. Man hat langsam den Eindruck, daß die Uhr hier abläuft.“ „Kaffee mit Milch und Zucker?“, Polizeirätin Birgit Singer, die junge Abschnittleiterin, sorgt diplomatisch für eine Akzentverschiebung. Gewiß, der Polizeiabschnitt 55 ist ein hartes Pflaster, überdurchschnittlich viele Körperverletzungen, häusliche Gewalt, blutige Verbrechen: „Aber unser Problem“, sagt Birgit Singer, „ist das soziale Problem: Die Leute müßten für ihren Kiez wieder Verantwortung übernehmen. Aber viele schaffen das nicht mal für ihr eigenes Leben. Zu uns kommen Kinder auf die Wache, weil Mama und Papa zu Hause alkoholisiert in der Ecke liegen.“

„Es gibt Häuser“ sagt Peter Boltz von der Wohnungsgesellschaft, an dessen Büro das Schild „Soziale Aufgaben“ hängt, „die sind umgekippt. Da holen wir drei Kampfhunde und jede Menge Müll aus den Wohnungen raus. Aber die Gegend insgesamt ist nicht schwieriger als andere auch. Nur ist hier alles viel öffentlicher, die Leute fangen an, ihr eigenes Wohngebiet zu stigmatisieren.“

Berlin-Neukölln, einer der Problembezirke der Hauptstadt. Neukölln Rollbergsiedlung – für viele das letzte. Ein Neubaugebiet, Anfang der 70er Jahre aus dem Boden geschossen, eingezwängt zwischen drei Hauptverkehrsadern, aber nicht so monströs wie das Märkische Viertel. Häuserblocks, auf den ersten Blick fast anheimelnd, mit viel Grün zwischen dem Beton. Doch seit Jahren manövriert sich das Viertel in eine Abwärtsspirale hinein. Wer kann, zieht weg. Wer nicht kann, redet darüber. Selffulfilling prophecy: Ein Gebiet droht zu dem zu werden, was bisher vor allem sein Image war.

Berlin-Neukölln, Rollbergsiedlung. Ein Viertel versucht, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Seit April ist die Siedlung eines von zwei Modellprojekten in Berlin. Unter dem Titel „Kiezorientierte Gewalt- und Kriminalitätsprävention“ soll hier und im Ostbezirk Friedrichshain an zwei sozialen Brennpunkten nach neuen Wegen gesucht werden. Eine notgedrungene Neuorientierung, die herkömmlichen Pfade von Polizei und Justiz haben sich als Sackgassen erwiesen. Bei regelmäßigen Treffen sitzen nun alle Kiez-Institutionen beisammen: Bürgermeister und Jugendamt, Polizei und Kirche, Wohnungsgesellschaft und Türkische Gemeinde. Und keiner würde so kurzsichtig sein, nur nach Law und order zu rufen.

„Da können Sie nur eine Granate reinwerfen“

Im Erdgeschoß eines Wohnblocks residieren Magnus Relligmann und Bärbel Knorr noch zwischen Umzugskisten. Sie sollen als Koordinatoren des Modellprojekts bestehende soziale Projekte vernetzen, neue Kontakte herstellen, Bewohner an einen Tisch bringen. „Die Leute müssen sich wieder mit ihrem Kiez identifizieren. Und es gibt viele, die haben Zeit und auch die Fähigkeiten, das hier zu gestalten“ – wenn Magnus Relligmann das sagt, klingt das nicht nach Berufsoptimismus. Die Gegend hat zwar alle Ingredenzien, die einen sozialen Brennpunkt ausmachen. Aber sie verfügt auch über Einrichtungen und Menschen, die etwas verändern wollen.

In den Sommerferien hat das Präventionsprojekt den Anfang gemacht: tägliches Basketballspiel für die Kids, die Körbe von der Wohnungsgesellschaft gestiftet, Streetballturniere, zwei davon gegen „die Bullen“ vom Polizeiabschnitt. Jugendliche haben eine Gemeinschaftswaschküche zum Café umgemodelt, gebaut haben sie selbst, die Nachbarn brachten die Möbel. Anfang August feierte man das erste Sommerfest im Kiez, erst skeptisch beäugt, am Ende schafften aber doch etliche Mieter ihre Stühle in die Grünanlage, um mitzulachen, als ihre Nachbarn Karaoke mimten. Gemeinschaftsgefühl für ein paar Stunden.

„Hier was verändern?“ – da lacht Frau Maus bitter und Frau Jantz könnte Schluckauf kriegen. Sie ist Hauswartsfrau und schließt, „ich zeig' Ihnen mal was“, die Tür zum Nachbarblock auf. Dort weisen blaue Schilder wie an Autobahnausfahrten die Routen „Ost3“ und „Nord4“. An den Wänden ist kein Platz mehr für neue Graffiti, auf den Endlosfluren donnern Inlineskater. „Hier können Sie doch keinen Besuch mehr empfangen“, meint Frau Jantz, „hier können Sie nur weg“.

Wenn nur die schönen Wohnungen nicht wären. Die von Frau Jantz hat drei Zimmer, ist hell und geräumig, allerdings zu teuer für die Gegend: Zwischen 13 und 20 Mark pendeln die Quadratmeterpreise. Dafür kriegt man ein Reihenhaus im Umland. Die Rollbergsiedlung ist von der ganz normalen Schizophrenie des sozialen Wohnungsbaus befallen: Die Miete kann sich nur noch leisten, wer sie nicht selber zahlen muß. 40 Prozent der Neuzuziehenden kommen mit einem Kostenübernahmeschein vom Sozialamt. „Stadt und Land“, die Wohnungsgesellschaft, der fast alle Häuser gehören, kann sich die Mieter nicht mehr aussuchen. Inzwischen erwägt man, Wohnungen leerstehen zu lassen, statt sie an weitere Problemfamilien zu vermieten. Jeder Alki mehr läßt den nächsten Möbelwagen anrücken, und die Fluktuation hat schon jetzt alle Rekordmarken überschritten. „Das Modellprojekt“, sagt Peter Boltz, Sozialarbeiter bei „Stadt und Land“, „ist ein Glücksfall für uns. Das ist die einzige Möglichkeit gegenzusteuern.“

Steuern mit ersten Bestandsaufnahmen, ersten Vernetzungen und kleinen Schritten wie diesen: Neulich rief der Pfarrer der Luisengemeinde im Büro von Koordinator Relligmann an. Neben seinem Friedhof habe man Heroinspritzen gefunden. Relligmann hat ihn an ein Drogenprojekt in seiner Nachbarschaft vermittelt. Und kürzlich, als aufgebrachte ausländische Jugendliche motzten, „wegen jedem Scheiß“ würde die Polizei sie filzen, Relligmann brachte beide Seiten an einen Tisch im Jugendzentrum nebenan. Da wurde zumindest Dampf abgelassen.

Und allmählich konkretisieren sich auch Ideen, wie man dem wackeligen Kiez ein Identitätskorsett einziehen könnte: Die Wohnungsgesellschaft könnte Aufträge zur Pflege der Grünanlagen und zur Renovierung der Häuser vorrangig an Leute aus dem Kiez vergeben, Bausünden der 70 Jahre könnten korrigiert werden, damit Angsträume wie die langen Rundflure verschwinden. Ein Graffiti- Projekt könnte die grauen Wände gestalten. Und endlich will man Mieterversammlungen für die türkischen, polnischen und arabischen Bewohner in deren eigener Sprache abhalten.

„Abends“, schimpft Frau Maus, „donnern die Türkenbengels mit Mopeds durch die Grünanlage, mit den Ausländern, das nimmt einfach überhand. Gucken Sie nur rüber, das sind die mit den Drogen.“ „Die mit den Drogen“, das ist eine deutsche Familie. Auch so eines von – ernstzunehmenden – Wahrnehmungsproblemen: Mit 26 Prozent liegt der Ausländeranteil in der Rollbergsiedlung weit niedriger als in anderen Neuköllner oder Kreuzberger Straßenzügen, und in den letzten Jahren ist er kaum gestiegen. „Aber subjektiv“, weiß Peter Boltz, „erleben die Leute das anders. Die jammern über die vielen Kopftücher, aber nach drei Sätzen stellt sich heraus: Das größere Problem sind die deutschen Sozialhilfeempfänger und Alkis.“ Frau Maus sagt dazu: „Ja, aber jetzt fangen auch noch die Türken an zu trinken.“ Und wenn man denen mal was sagt, „dann kommen gleich zwanzig aus der Familie“.

„Es gibt ein Potential von fitten Leuten hier“

Manchmal sind sie zwanzig, manchmal mehr, und in der Gruppe wirken sie auf viele bedrohlich – im Keller eines Neubaublocks haben sich arabische, türkische und einige wenige deutsche Jugendliche ihren Treff eingerichtet. „Das geht keine drei Wochen gut!“, sagte man bei der Wohnungsgesellschaft. Jetzt geht es seit dreieinhalb Jahren. Mit Unterstützung von Streetworkern organisieren die Jugendlichen ihren Keller selbst. Sie haben ihren eigenen Schlüssel, kochen, renovieren, putzen. So sauber und graffitifrei ist weit und breit kein staatliches Jugendzentrum. Die Tür steht offen, vor dem Computer hockt eine Mädchentraube, im Nachbarzimmer versorgt sich Janine mit Inlineskatern. Im Mädchentreff MaDonna herrscht Hochbetrieb. „Präventionsarbeit“, meint Gabriele Heinemann, die den Treff seit sechzehn Jahren leitet, „muß bei den Mädchen anfangen. Wer bei den Jungs was erreichen will, muß die Mädchen einbeziehen, denn Kriminalität und Gewalt sind häufig nur blödes Macho-Imponiergehabe“. MaDonna macht Selbstbehauptungstraining, übt Grenzen zu ziehen bei sexuellen Kontakten, zeigt mit Rollenspielen, daß männliches Imponiergehabe heiße Luft ist. Und MaDonna will vorexerzieren, daß man Konflikte friedlich lösen kann, damit sich in der nächsten Generation nicht wiederholt, was Gabriele Heinemann allzu häufig erlebt: „Die Mädchen kommen und sind grün und blau geschlagen.“

Projekte wie der Mädchenladen und der Jugendkeller sind es, die dem Präventionsvorhaben die praktischen Stützpfeiler einziehen, ein Gerüst von sozialen Einrichtungen, die schon seit Jahren in der Rollbergsiedlung arbeiten, aber unter der Last der Probleme zu verschwinden drohen. Das Modellprojekt könnte auch für sie eine Chance werden. „Es gibt“, sagt Heinemann, „ein Potential von fitten Leuten, die bisher untätig sind. Bei den alleinerziehenden Müttern etwa ist viel Bereitschaft, etwas zu machen. Manchmal reicht nur ein kleiner Anstoß.“

Ein kleiner Anstoß: Eine Weile haben die Kinder auch der Nachbarin des Mädchentreffs vor die Türe gepißt. Die Frau hat sich überwunden und die Kids zum Kaffee eingeladen. Seitdem herrscht nicht unbedingt Liebe, aber Waffenstillstand. „Die türkische Sängerin bei uns im Haus, unerträglich!“, schimpft Frau Jantz, „ausgerechnet nachts muß sie üben bei offenem Fenster.“ Nun sammelt sie Unterschriften deswegen, „das heißt eigentlich macht das unser Türke. Also unserer ist wirklich ein toller Türke!“