Nie zuvor war Peking so mächtig

■ Die Zeiten der Völkerfreundschaft sind vorbei, heute schürt China bewußt den Nationalismus. Ziel: Der Supermachtstatus

Noch immer gilt Staats- und Parteichef Jiang Zemin als blasser Führer. Noch immer wird das Ansehen von Premier Li Peng vom Massaker auf dem Tiananmen- Platz belastet. Doch man kann die Pekinger Führung kritisieren, wie man will: Seit der Blütezeit Chinas unter der Fremddynastie der Mandschu im 18. Jahrundert hat das Reich der Mitte kein so großes Ansehen in der Welt besessen wie heute. Ob in Brüssel, Washington oder Tokio: China wird ernst genommen. Nicht einmal Pessimisten, die dem Land eine soziale Explosion prophezeien, zweifeln noch daran, daß Chinas weltpolitische Rolle wachsen und zu einem entscheidenden Faktor im 21. Jahrhundert werden wird.

Die Weichen für Chinas Weg zur Supermacht könnten schon Ende Oktober in Washington gestellt werden. Der erste Staatsbesuch Jiang Zemins in den USA gilt als Auftakt einer neuen Gipfeldiplomatie, die – wie einst die Gespräche zwischen Washington und Moskau – die strategischen Visionen der künftigen Weltpolitik bestimmen soll. Gemeinsam wollen die USA und China davon profitieren, daß der Supermachtstatus für das kommende Jahrhundert nur ihren Ländern zugetraut wird.

An einem chinesischen Gegenpart haben die USA durchaus Interesse: Den Vordenkern in Washington fällt auf, daß ihre Außenpolitik in Zeiten fehlender Konfrontation sowohl zu Hause als auch im Ausland schwieriger zu vermitteln ist. Zudem werden ohne vorzeigbaren Gegner dem amerikanischen Verteidigungsministerium schlicht die Mittel gekürzt. Indessen stammt die Vision von China als Nebenbuhler Amerikas aus Peking. Hier hat die Parteiführung in den vergangenen Jahren einem neuen Nationalismus Vorschub geleistet, der den Ideologiekonflikt mit dem Westen ersetzen soll, indem er den traditionellen Hegemonieanspruch Chinas über Asien wiederentdeckt. Bücher wie „Das China, das nein sagen kann“ oder „Warum China nein sagen kann“, die die koloniale Demütigung beschwören, um eine nationalistische Trotzreaktion zu wecken, wurden von der Partei zwar nicht offiziell prämiert, doch mit Wohlwollen geduldet. Immer seltener sind die Beschwörungen der Völkerfreundschaft geworden. Statt dessen setzt der neue diplomatische Ton auf Stärke: „Man wird sich daran gewöhnen müssen, daß die chinesische Jugend einen härteren Ton mit dem Westen anschlägt als wir“, werden heute westliche Gäste von älteren Parteikadern gewarnt.

Am deutlichsten wird der neue Führungsanspruch gegenüber Japan geäußert, das wirtschaftlich auf Jahre hin die bestimmende Macht in Asien bleiben wird. Diesen Makel soll die Politik überdecken. „Völlig unakzeptabel“ nannte Premier Li Peng kürzlich das japanische Ansinnen, im Fall eines chinesisch-amerikanischen Konflikts um Taiwan der amerikanische Seite militärische Unterstützung zu leisten. Entscheidend war hierbei der Tonfall: Peking kommandierte Tokio wie in alten Dynastie- Zeiten, als man das Inselreich als Vasallenstaat betrachtete.

Erfolgreich ist die chinesische Machtpolitik in Südostasien: In Folge der starken Worte Lis wagte kein Land der Region, sich zur stärkeren Militärkooperation zwischen Japan und Amerika zu bekennen – obwohl jede Regierung zwischen Manila und Singapur weiß, daß nur das Bündnis mit Japan den gewünschten verteidigungspolitischen Einfluß Amerikas in Asien garantiert.

Gegen die Rolle Chinas als Supermacht spricht dagegen, daß die chinesische Politik auf Jahrzehnte von den Fragen des Ausgleichs zwischen Arm und Reich, Küsten- und Hinterlandregion bestimmt werden wird. Beim Pro-Kopf-Einkommen zählt China immer noch zu den ärmsten Länder Asiens.

Es gibt aber auch andere Zahlen. Danach könnte die chinesischen Wirtschaft allein aufgrund ihrer Größe in zehn Jahren das Niveau der USA oder zumindest Japans erreichen. In den USA gibt es nicht wenige, die diese Angst schüren: „China will die USA als führende Macht in Asien ersetzen“, schreiben Bernstein und Munro in ihrer Politfiktion „The Coming Conflict with China“. Georg Blume, Peking