Demokratietheorie

■ betrt.: „Die Stunde der Wahrheit“, Interview mit Henning Voscherau, taz vom 1.9. 97, „Dem Volk aufs Maul geschaut“, Kommentar von Dieter Rulff, taz vom 3.9. 97

Es ist einfach, linke Euro-Skepsis abzulehnen – allerdings läßt sich die Sorge um die demokratischen Strukturen in der Europäischen Union nicht übergehen. In gewissen Motiven gleichen Voscheraus Bedenken den Gedanken, die im ersten Beitrag zur Europa-Debatte der taz (19./20.7.97) von Micha Brumlik veröffentlicht worden sind. Das zentrale Problem, das Brumlik benennt, liegt darin, daß für Europa kein politischer Souverän ermittelt werden kann, der theoretisch schlüssig demokratischen Grundsätzen entspricht. Im Nationalstaat ist diese Art Souverän mit dem Staatsvolk gegeben. In den bisherigen Folgebeiträgen zur Frage nach dem Verhältnis der Linken zu Europa wurde allerdings gerade das Problem des demokratischen Souveräns für Europa ausgespart und damit das demokratietheoretische Defizit der Linken auf diesem Gebiet nicht abgebaut. Nach einem Vorschlag verlangt es jedoch, daher folgen drei subjektiv ausgewählte Stimmen zur Demokratietheorie aus dem angelsächsischen Bereich.

Ökonomischer transnationaler Druck verhindert nationale Gerechtigkeitslösungen. Hier ist nach der Definition von Gerechtigkeit gefragt. Eine klassische Antwort, die Gerechtigkeit auf die Vernunft gründet und daraus BürgerInnenrechte und Demokratie herleitet, hat John Rawls formuliert. Er begründet den Gesellschaftsvertrag mit einem imaginären Urzustand, in dem die politischen Akteure ihre späteren Rollen im Gemeinwesen nicht kennen, d. h. nicht etwa von Privilegien ausgehen können. So gewinnt Rawls allgemeingültige Verteilungsregeln. Das nennt sein Kritiker Michael Walzer eine Verteilungsregelung im Sinne „einfacher Gleichheit“. Die Pointe liegt darin, daß wegen der tatsächlich bestehenden Ungleichheiten, bezogen auf Größe und Macht der Einzelstaaten, ein europäisches System die Gleichheit der AkteurInnen in der Tagespolitik nicht gewährleisten kann, sie vielmehr unterläuft, selbst wenn eine gesamteuropäische Demokratie eingerichtet würde. Daß Gerechtigkeit sich jedoch ausschließlich über politische Macht verwirklichen läßt, ist mit Paul Tillich weiterführend zu bemerken. Dabei ist eine Ambivalenz nicht zu umgehen: Die Macht überlagert bei der politischen Umsetzung von Gerechtigkeitsgrundsätzen zugleich deren Wirksamkeit. Auch Gerechtigkeit, die einfache Gleichheit aller AkteuerInnen beinhaltet, bleibt also gebunden an eine Machtgruppe, die schon durch ihre Präsenz dieser Gleichheit widerspricht. Übertragen auf die europäischen Staaten, ergibt sich daraus ein undemokratisches Vorherrschen bestimmter Staaten und wirtschaftlicher Machtgruppen. Die Gefahr besteht dann darin, daß der Einfluß der Machtgruppen nicht mehr über staatsrechtliche und -politische Organe kontrolliert oder beeinflußt werden kann, und damit verschwinden linke Perspektiven für Europa.

Es bleibt das Modell einer komplexen Gleichheit zu betrachten, das Michael Walzer im Modell des Exodus als grundlegender Erzählung vor allem der für die Demokratietheorie entscheidenden Revolutionen gefaßt hat. Die Stämme Israels schließen sich – jeweils „politisch“ relativ eigenständig bleibend – zu einem Gemeinwesen zusammen. Heute wären es analog die jeweiligen europäischen Einzelstatten, die ihre Eigenständigkeit bewahren könnten. Allerdings wurde das Modell des Stämmezusammenschlusses in der biblischen Tradition, die Walzer interpretiert, überliefert in einem Gesamtzusammenhang, der andere Akzente setzt: dem Verfassungswerk des Reformkönigs Josia auf nationalstaatlicher Ebene (dem Deuteronomium). Dabei beinhaltet die Reform einen Kompromiß zwischen köngigsfreundlichen und staatskritischen Positionen. Weshalb erscheint die von Walzer bevorzugte komplexe Gleichheit der vorstaatlichen Stämmegesellschaft derart überholt? Die Antworten theologischer, religionsgeschichtlicher und philosophischer Art sind vielfältig und es fehlt hier leider der Raum, sie anzudeuten. Ich denke, daß Gerechtigkeit „im Plural“ einen negativen Beigeschmack besitzt: Das eigentliche Kriterium einer – jeweils nach Verteilungssphären, Gruppen oder eben Nationen – unterschiedlichen Gerechtigkeitsregelung scheint der Pragmatismus zu sein. Positiv bleibt zu Walzers Ansatz zu bemerken, daß sein Denken – wie auch bei Tillich – grundlegend von der realistischen Erkenntnis geprägt ist, daß überstaatliche Regelungen mit den schwerwiegenden Problemen der Verteilung von Macht einhergehen.

Wie in der Debatte angedeutet (Robert Misik am 25.8.), sind in dem Begriff „Nation“ auch dann besondere Probleme enthalten, wenn von demokratischen Verfassungen ausgegangen wird. Die angelsächsische Demokratietheorie ist, da sie sich letztlich auf den Nationalstaat beruft, von den Ambivalenzen der Nation – die sowohl von Voscherau als auch von Brumlik wahrgenommen werden – nicht ausgenommen. Zunächst bieten sich zwei Folgerungen an:

1. Einfache Gleichheit, auf nationalstaatliche Verfassungen bezogen, verwirklicht am ehesten Gerechtigkeit, ob es sich um die Wurzel im Deuteronomium mit ihren zum Teil säkularen Entwicklungen in linken theoretischen Ansätzen oder um die Begründung der Gerechtigkeit mit der – wie auch immer gebundenen oder ungebundenen – Vernunft bei John Rawls handelt.

2. Gesamt-Europa kann keinen Souverän im politischen Sinne verkörpern. Da Gerechtigkeit auf politische Macht angewiesen ist, läßt sie sich – aufgrund dieser Angewiesenheit begrenzt – zunächst nur auf der nationalstaatlichen Ebene theoretisch fassen.

Oben wurde angedeutet, daß diese Probleme nicht schnell und mit einem Wurf gelöst werden können. Dennoch läßt sich ein problembewußtes und kritisches „Ja“ zu Europa formulieren, sofern die nationalstaatliche Politik für die Linke – im Bewußtsein der Ambivalenz jedes nationalen Rahmens – vorrangiger Bezugspunkt bleibt. Der Grund für die vorsichtige Zustimmung besteht darin, daß nicht demokratietheoretisch vollständig übersetzbare Visionen einer Gerechtigkeit jenseits von nationalem Denken leben. Ob der Euro ein Katalysator für einen Prozeß zu diesem Ziel für die europäische Linke sein kann, wird sich erst in der Zukunft erweisen – unter der Voraussetzung, daß Skepsis nicht tabuisiert wird. Linke Europapolitik wäre dann immer auch Gegenentwurf, an dem alle fortschrittlichen gesellschaftlichen Kräfte arbeiten. Jan-P.- König, Reinbek