Teilen sollen vor allem die Ausgebeuteten

■ betr.: „Das Ende der Solidarität?“ von Werner Sauerborn, taz vom 9.10. 97

[...] Sauerborns Plädoyer für Lohnverzicht ignoriert völlig, daß von der Entwicklung der gesellschaftlichen Lohnsumme direkt die Sozialbudgets und die konsumtive Nachfrage abhängen. Die durch Lohnverzicht erzeugten negativen Multiplikatoreffekte führen gerade zu der rezessiven Spirale in der binnenwirtschaftlichen Entwicklung, die auch durch die starke Exportposition nicht kompensiert werden kann.

Sauerborn mißversteht weiterhin durch seine Interpretation des Keynesianismus als gewerkschaftliche Legitimationsideologie die zentrale wissenschaftliche Neuerung der Keynesschen Theorie gegenüber der neoklassischen Schule. Wenn alle Unternehmen in ihrer mikroökonomischen Beschränktheit auf Lohnsenkung fixiert sind, kommt es makroökonomisch durch den dadurch erzeugten Nachfrageausfall nicht zu dem angestrebten Gleichgewicht, sondern Ungleichgewicht und Arbeitslosigkeit. In diese Falle sind auch die Gewerkschaften durch die Abkehr von der produktivitätsorientierten Lohnpolitik geraten.

Sauerborns Vision einer möglichen Arbeitsumverteilung unterstellt, daß die abhängig Beschäftigten über Einstellungen entscheiden könnten. In kapitalistischen Gesellschaften gelten allerdings unternehmerische Eigentümer- und Direktionsrechte. Wird dies berücksichtigt, ist es schon einigermaßen naiv, im „Egoismus“ der Arbeiter die Blockade der Arbeitsumverteilung zu sehen. Im Kern steckt hinter Sauerborns Zorn auf das Bündnis von Arbeitern und keynesianischer Theorie ein religiöses Motiv. Die Beschäftigten sollten durch Lohnverzicht wenigstens Reue und Sühne zeigen, weil sie den Arbeitslosen gegenüber das „Privileg“ des Lohnarbeitsverhältnisses haben.

Linke Antikeynesianer und rechte Neoklassiker haben eine Sichtweise gemeinsam: Mehr Beschäftigung gibt es nur über niedrigere Löhne. Während die Neoklassiker für diesen Zusammenhang noch ein theoretisches Modell bemühen, reicht für den linken Antikeynesianismus die christliche Verzichtsethik. In den 70er Jahren hatte der Neomarxismus gegen den Keynesianismus polemisiert, um den Arbeitern die reformistischen Illusionen aus- und die Revolution einzureden. Das war zwar inhaltlich falsch, aber wenigstens noch emanzipatorisch gemeint. Heute dagegen werden die Arbeiter moralisch kritisiert, wenn sie sich gegen weitere Lohnsenkungen berechtigt zur Wehr setzen. Die von Sauerborn geforderte Solidarität wäre nichts anderes als ökonomische Dummheit. Michael Wendl, Vorsitzender

des ÖTV-Bezirks Bayern

Es ist ein trickreicher Schachzug von ArbeitgeberInnen, ihnen nahestehenden PolitikerInnen und auch von, wie man lesen kann, einem willfährigen Gewerkschaftsfunktionär den Kampf der ArbeitnehmerInnen um den Preis ihrer Arbeit aus dem ökonomischen Alltag heraus auf ein moralisches Podest zu heben. Da ist dann viel zu hören von Gerechtigkeit und Solidarität und vom Teilen. Christliches Verhalten wird folgerichtig dann eingefordert, wenn es um das Heiligste geht: um den Preis für die Ware Arbeitskraft oder, was nur eine daraus abgeleitete Größe ist, um die Höhe des Profits. Muß noch ausdrücklich erwähnt werden, daß die Genannten dabei immer nur die Solidarität der ArbeitnehmerInnen hochhalten? Teilen sollen vor allem die Ausgebeuteten untereinander, während die Ausbeuter das volkswirtschaftlich Sinnvolle und, bei Strafe von Arbeitslosigkeit, nicht zu überschreitende Verteilungsvolumen vorher festgesetzt haben.

Holen wir also die Lohnfrage aus den Höhen der Moral wieder in die Niederungen des einfachen Verstandes zurück – was einem Intellektuellen, der diesen Namen zu Recht tragen will, durchaus angemessen ist. Der Lohn und andere Arbeitsbedingungen sind für ArbeitnehmerInnen in den letzten Jahren auf ein Niveau zurückgegangen, das von ihnen nicht mehr toleriert wird. Umgekehrt, als Folge davon, sind die Profite der ArbeitgeberInnen in erstaunliche Höhen geschnellt. Die ArbeitnehmerInnen wollen sich einen geringen Teil dessen zurückholen, was ihnen zuvor genommen wurde. Realisieren sie einen höheren Marktpreis, ist das für eine kurze Zeit gut für sie und schlecht für die Gegenseite. Es ist übrigens indirekt auch vorteilhaft für die Arbeitslosen, deren Arbeitslosengeld bzw. -hilfe sich am einmal erreichten Lohnniveau orientieren. Das sind die normalen ökonomischen Gesetze einer kapitalistisch organisierten Volkswirtschaft.

Des Autors rhetorisch gemeinte Frage, ob linke Intellektuelle die „Entsolidarisierung innerhalb der ArbeiterInnenbewegung“ – gemeint ist ein kompromißloser Kampf der ArbeitnehmerInnen um die Höhe ihres Lohns – stärken sollen, beantworten wir so: Ja – wenn die Intellektuellen nicht jegliche Reputation bei den ArbeitnehmerInnen verlieren und ihren eigenen Anspruch auf Wahrhaftigkeit nicht aufgeben wollen – dann sollten sie diesen Kampf dort, wo sie es können, unterstützen. Wenn nicht – nun, dann werden die ArbeitnehmerInnen, wie so oft, eben alleine kämpfen. Wolfang Maul, Nürnberg