Ein Sammelbecken für Enttäuschte

■ Erstmals nimmt eine Islamisten-Partei an den Wahlen teil. Ihre Versprechungen kommen inzwischen bei der Mittelschicht gut an

Abdelilah Benkiram ist am Ziel seiner Träume: Erstmals ließ König Hassan II. Kandidaten seiner Partei zu. 44 Islamisten der Al-Islah wa-l-Tajdid (Reform und Erneuerung) werden offiziell auf der Liste der Demokratisch-Konstitutionellen Volksbewegung (MPDC) des Veteranen der Unabhängigkeitsbewegung, Abdelkrim Khatib, geführt. „Das ist alles nur eine Frage des Verhältnisses zum Staat. Wir haben uns gemäßigt“, nennt Benkiram den Preis für den neugewonnenen Spielraum.

Während der Vorsitzende der radikaleren Islamisten-Partei Al Adl Wal Ihssane (Gerechtigkeit und Mildtätigkeit), Scheich Abdessalam Yassine, seit 1989 ununterbrochen unter Hausarrest steht, sieht König Hassan II. in Benkirams Gruppe ein willkommenes Überdruckventil. Denn längst lassen sich die religiösen Parteien nicht mehr einfach als importiertes Phänomen abtun und verbieten. Die verschiedenen islamistischen Gruppen Marokkos fassen überall dort Fuß, wo die von IWF und Weltbank verordnete Schuldenreduzierung Opfer hinterläßt. In Zeiten, in denen selbst das Oppositionsbündnis Koutla der Politik der „Modernisierung“ zustimmt, werden die Islamisten für viele zur einzigen Opposition.

Wo das offizielle Marokko dem Elend den Rücken zeigt, sind die Islamisten vor Ort. „Wie die katholischen Caritas“, meint Benkiram. Während der Staat untätig blieb, zogen 1996 nach starken Hochwassern junge Islamisten in die Elendsviertel von Casablanca, um zu helfen. Diese Gruppen verhalfen den religiösen Politikern zu ihrem größten Punktsieg über König Hassan II. Um den Imageverlust in Grenzen zu halten, gründete die Regierung eiligst eine offizielle Agentur für Hilfsleistungen – die Zuteilungen mußten fortan über diese staatliche Stelle abgewickelt werden. Die Bedürftigen wußten trotzdem, woher die Hilfe kam.

Längst kommen die Versprechen von mehr „sozialer Stabilität“ auch dort gut an, wo das Regime bis vor kurzem eine bessere Zukunft bereithielt: in der Mittelschicht. Neoliberale Strukturanpassung und die damit verbundene Privatisierung weiter Teile der staatlichen Industrie berauben den akademischen Nachwuchs jeglicher Perspektive. 70 Prozent der Marokkaner sind unter 30 Jahre alt, jährlich drängen 250.000 neue Arbeitskräfte auf den Markt. Die Enttäuschung angesichts der gescheiterten Modernisierung findet auch bei ihnen in der Rückbesinnung auf religiöse Werte ihren Ausdruck. Während in den siebziger und achtziger Jahren die Studenten mit traditionellen Werten an die Universitäten kamen und im Lauf ihres Studiums fortschrittliches Gedankengut übernahmen, ist dies heute genau umgekehrt.

Während andere Oppositionsparteien auf ihrem Weg an die Regierung selbst die Monarchie ohne Wenn und Aber akzeptieren, versuchen sich die Islamisten auf ihre Art an der Kritik am König. Die ultraorthodoxen Imame stellen immer wieder die Autorität des Königs als „Oberhaupt aller Gläubigen“ in Frage, wenn es um die Bestimmung von Anfang und Ende des Fastenmonats Ramadan geht. Sie richten sich nicht mehr nach den Angaben des Monarchen, sondern nach dem Kalender des Imam in Mekka. Was aussieht wie ein lächerlicher Streit, hat in Marokko große symbolische Bedeutung.