Die heutigen Parlamentswahlen in Marokko bilden den Schlußpunkt eines Demokratisierungsprozesses, den König Hassan II. selbst initiiert hat. Erstmals soll die Opposition, so sie an der Urne besteht, regieren. Die Bevölkerung bleibt größtenteils skeptisch. Von Reiner Wandler

Pakt mit der Monarchie

König Hassan II. läßt wählen, und dieses Mal hat er sich was ganz Besonderes ausgedacht. Der Monarch will Marokkos Regierung nicht, wie bisher üblich, ungeachtet der Wahlergebnisse aus dem Lager des königstreuen, konservativen Parteienblocks Wifak (Einvernehmen) bestimmen. Erstmals soll das Oppositionsbündnis Koutla (Einheit), falls es an den Urnen besteht, regieren dürfen.

Die heutigen Parlamentswahlen sind der Schlußpunkt eines Mitte der neunziger Jahre von Hassan II. eingeleiteten Demokratisierungsprozesses, der Marokko zum „europäischsten aller Maghrebländer“ machen soll. Die 325köpfige Volksvertretung, um deren Mandate sich 3.319 Kandidaten aus 16 Parteien bewerben – unter ihnen nur 69 Frauen –, ist das Ergebnis einer Verfassungsreform, die letzten Herbst in einer Volksabstimmung mit 99,5 Prozent Jastimmen angenommen wurde. Die Verfassung sieht eine Dezentralisierung der Verwaltung sowie die Einführung einer zweiten Kammer vor, die von Gemeindeverwaltungen sowie Berufsverbänden beschickt wird.

Beim Referendum unterstützte das 1992 gegründete Oppositionsbündnis Koutla erstmals ein Projekt des Königshauses. Die vier Koutla-Parteien — die nationalistische Istiqlal von Mohammed Bouceta, die Union der Sozialistischen Volkskräfte (USFP) von Abderrahmane Youssoufi sowie die kommunistische Partei für Fortschritt und Sozialismus (PPS) und die gemäßigt marxistische Organisation der Demokratischen Volksaktion (OADP) – schlossen mit den Regierungskräften von Wifak einen „Pakt für saubere Wahlen“. 3.388 Plexiglasurnen wurden in Spanien gekauft, wo die durchsichtigen Kästen seit dem Tod von Diktator Franco für ehrliche Wahlen stehen. „Wir haben das Wort des Königs“, begründete Youssoufi, der aus dem französischen Exil heimgekehrt war, seine neue, auf Beteiligung an den Institutionen ausgerichtete Linie.

Die Bevölkerung läßt sich von der Hoffnung der Koutla-Politiker auf einen tiefgreifenden Wechsel nicht anstecken. Die Wahlkampfveranstaltungen der letzten beiden Wochen waren schlecht besucht. Während die politische Elite über mehr Demokratie debattiert, beherrscht soziale Not den Alltag. 20 Prozent der Marokkaner sind nach offiziellen Angaben ohne Arbeit. Inoffizielle Schätzungen gehen gar davon aus, daß nur jeder fünfte einen festen Arbeitsvertrag hat. Jährlich setzen 2.000 Menschen ihr Leben aufs Spiel und suchen den Weg über die Meerenge von Gibraltar nach Europa. Bettler bestimmen das Straßenbild der Großstädte. Während die wenigen Gewinner der Modernisierung in Restaurants europäischen Zuschnitts gesunde kalorienarme Kost auswählen, wissen jene, die vor der Tür nach einem geschützten Plätzchen zum Übernachten suchen, nicht, wovon sie satt werden sollen. Selbst das Versprechen der Sozialisten, 150.000 zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, konnte die Apathie der zu über 50 Prozent analphabetischen Wähler nicht durchbrechen. Die Koutla-Politiker sind nervös. Hofften sie zu Anfang des Jahres noch auf eine absolute Mehrheit, kam im Juni bei den Kommunalwahlen die Ernüchterung. Zwar legte Koutla zehn Prozent zu, errang aber dennoch nur 31 Prozent. Auch wenn vor allem die Sozialisten bei Parlamentswahlen üblicherweise erheblich besser abschneiden als auf Gemeindeebene, dürfte Koutla auf einen Bündnispartner aus den Reihen der Zentrumsparteien angewiesen sein. Ahmed Osman, Schwager und enger Vertrauter von König Hassan II., könnte mit seiner Nationalen Versammlung der Unabhängigen (RNI) aus der Patsche helfen. Seit geraumer Zeit nennt er seine Formation „sozialdemokratisch“, um so ein Zusammengehen mit der Opposition zu erleichtern. Im Falle einer Koalition wäre Osman Zünglein an der Waage und zugleich langer Arm des Königs in der neuen Regierung.

„Entweder führen diese Wahlen tatsächlich zu einem demokratischen Wechsel, oder es gibt ein Chaos“, warnte USFP-Chef Youssoufi die sich hauptsächlich aus Mitgliedern der Verwaltung speisende Wifak vor der Versuchung, die Wahlen abermals zu fälschen. Die Sozialisten protestierten bereits während des Wahlkampfes gegen Ungereimtheiten. Die Prediger in verschiedenen Moscheen sollen sich zu Gunsten der Rechtsparteien geäußert haben. Auch Geld sei wie bereits bei vorhergegangenen Wahlen wieder im Spiel.

Die Forderung nach einem einzigen Stimmzettel, bei dem einfach die gewünschte Partei angekreuzt wird, blieb ungehört. „Mit dieser Initiative wollten wir den Stimmenkauf unterbinden“, sagt der Fraktionsvorsitzende der USFP, Fathallah Oualalou (s. Interview). Bestochene Wähler kassieren üblicherweise nach Verlassen des Wahllokals. Dazu müssen sie die übriggebliebenen Stimmzettel der anderen Parteien abgeben. Daß dies nicht immer eine Gewähr dafür bietet, daß die gekaufte Stimme tatsächlich in der Urne liegt, zeigten die Wahlen von 1993, als über eine Million leerer Umschläge ausgezählt wurden.

„Damit diese Wahlen ein Erfolg werden, muß die Verwaltung ihre Haltung zu den Kommunalwahlen ändern“, sagt Oualalou. Im Juni 97 war das Ergebnis nicht wie früher üblich von den Beamten nachträglich frisiert worden, allerdings schauten sie beim mittlerweile gesetzlich verbotenen Stimmenkauf gelassen weg. „Negative Neutralität“, nennt dies die Opposition.