Mit Gott und einem neuen Boden

Dank des langsamen Asphaltcourts hat Michael Chang trotz seiner gestrigen Niederlage gegen Jewgeni Kafelnikow erstmals echte Chancen bei der ATP-WM  ■ Aus Hannover Matti Lieske

Luciano Pavarotti hatte ganze Arbeit geleistet. Zielstrebig, so als verstünde er etwas vom Tennis, teilte er mit seiner Auslosung das Teilnehmehrfeld der ATP-WM fein säuberlich in eine Bolzergruppe und eine Schauflergruppe. Auf der einen Seite die wüsten Aufschläger Rusedski, Rafter, Sampras, auf der anderen die Grundlinien- und Returnspezialisten Chang, Kafelnikow, Bruguera und Björkman. Carlos Moya steht dazwischen und wurde kurzerhand den Bolzern zugeschlagen.

Bei früheren Auflagen dieser Veranstaltung wäre dies eine äußerst humane Auslosung gewesen, denn sie hätte dem Publikum immerhin ein wenig echtes Tennis garantiert und gleich zwei Netzabstinenzlern einen Platz im Halbfinale. Eine Chance auf den Sieg hätten sie dort natürlich nicht gehabt, den hätten Sampras und Rafter, wie beim Grand Slam Cup in München, unter sich ausgemacht.

Die Dinge haben sich jedoch geändert. Jahrelang hatten sich Leute wie Michael Chang und Thomas Muster darüber beklagt, daß die großen Jahresendturniere, für die man sich während der Saison auf allen möglichen Belägen qualifiziert hatte, stets auf extrem schnellen Böden stattfanden, die nur eine Kategorie von Spielern bevorteilten.

Ihre Worte stießen auf taube Ohren, denn besagte Veranstaltungen, ATP-WM und Grand Slam Cup, werden seit Beginn der 90er Jahre in Deutschland ausgetragen, und dort gab es bislang nur einen Untergrund: den Becker- Belag. Nicht Nutella, sondern ein extrem schneller Boden, der zufälligerweise auch dem hin und wieder auftauchenden Michael Stich in den Kram paßte. So konnte sich Muster getrost den Mund fusselig reden, und es war nur folgerichtig, daß er im Vorjahr nicht nur einen anderen Platz verlangte, sondern forderte, den Deutschen endlich die ATP-WM wegzunehmen.

Der Weltranglistenabsturz Beckers entspannte die Lage. Während man beim Grand Slam Cup den 29jährigen per Wildcard ins Feld gehievt hatte und daher einen Belag verlegte, der „manchmal schneller als Gras war“ (Sieger Sampras), hatten die Veranstalter im beckerfreien Hannover ein Einsehen. Ausgewählt wurde ein nicht ganz umweltfreundlicher Asphaltcourt, der sogar langsamer ist als die üblichen Hallenböden. Der Aufschlag verliert an Bedeutung, die Bälle springen hoch ab, werden schwer und „fluffy“ (Sampras) und können besser plaziert werden, weil mehr Zeit zum Ausholen bleibt. Thomas Muster nutzte das nichts: Nur als Ersatzmann nach Hannover gekommen, durfte er zwar gestern abend für den verletzten Rusedski einspringen - doch zu gewinnen war da nichts mehr.

Zwar gewann auch Patrick Rafter bisher beide Spiele, die wahren Nutznießer aber sind natürlich die Grundlinienspieler. Allen voran Jewgeni Kafelnikow, der gestern beim schnellen 6:3, 6:0 über Michael Chang, die großartige Form bestätigte, in der er sich bereits tags zuvor beim Sieg gegen Jonas Björkman präsentiert hatte. Aber auch Chang hat trotz des scheinbar klaren Ergebnisses noch alle Chancen. Nach dem Verlust des ersten Satzes schien er sich bereits auf das heutige entscheidende letzte Gruppenspiel gegen Björkman vorzubereiten.

Der Weltranglisten-Zweite nimmt bereits zum siebenten Mal am Turnier der besten acht Tennisspieler teil. Eine echte Siegchance hatte er bisher nie, auch wenn er dank seines verbesserten Aufschlags und seines aggressiver gewordenen Stils 1995 in Frankfurt das Finale gegen Becker erreichte.

Changs Problem ist, daß er nicht gerade in Bestform nach Hannover kam. „Das ist noch ziemlich untertrieben“, sagte er lachend. Nach seiner Halbfinalniederlage bei den US Open gegen Patrick Rafter gewann er bei den Turnieren in Singapur, Stuttgart und Paris kein einziges Match.

Um so wichtiger war der Auftaktsieg gegen Sergi Bruguera in Hannover, wo der Boden für sein Spiel wie geschaffen ist. „Gott hat mir die Kraft gegeben, gut von der Grundlinie zu spielen und mich auf dem Platz zu bewegen“, sagt Chang gewohnt bibelfest zu seiner Strategie. Nun gilt es nur noch, die Kraft mit Herrlichkeit zu verbinden. Oder, etwas heidnischer ausgedrückt: „Ich muß fähig sein, mein Spiel zu variieren.“ (Chang)

Wenn ihm dies in Hannover gelingt, könnte die Zeit für den zweiten großen Erfolg seiner Karriere endlich gekommen sein. Der erste, der Gewinn der French Open, liegt immerhin schon mehr als acht Jahre zurück, und die Gefahr, als ewiger Verlierer abgestempelt zu werden, ist groß.

Anders als Becker, der nach seinem ersten Wimbledon-Sieg als 17jähriger schnell weitere Meriten einheimste, ist Chang auf seinem damaligen Triumph sitzengeblieben. „Die Leute erinnern sich so deutlich daran, daß sie vergessen, daß ich erst 25 bin. Sie denken, der muß ja schon ein ziemlich alter Knacker sein.“ Die Gelegenheit, bei der ATP-WM aus dem Schatten der French Open 1989 zu treten, ist trotz der gestrigen Abfuhr günstig. Chang will sie nutzen. „Du mußt vergessen, was hinter dir liegt“, sagte er, „und dich vorbereiten auf das, was kommt.“ Ist das getan, will er entspannt „sehen, was der Herr geplant hat.“