Ab heute steht in Paris wegen dreifachen Mordes der Mann vor Gericht, der unter dem Namen „Carlos“ seit Mitte der siebziger Jahre als der meistgesuchte Terrorist der Welt galt. 1994 unter wildwestähnlichen Umständen im Sudan festgenommen, hat Carlos, der als Beruf „Revolutionär“ angibt, im Vorfeld der Verhandlung an die 30 Anwälte verschlissen. Aus Paris Dorothea Hahn

Carlos: Lebende Legende auf der Anklagebank

„Revolutionäre Grüße“, so schreibt Ilich Ramirez Sánchez, der Welt besser bekannt als „Carlos“, unter den Brief, in dem er seinen Anwalt Frédéric Pariente nach über einjähriger Zusammenarbeit entläßt. In den knappen Zeilen darüber begründet der 48jährige, der heute zum ersten Mal in seinem Leben wegen einer der ihm zur Last geworfenen Taten vor ein Gericht tritt: „Sie haben alle Rekorde der Boshaftigkeit gebrochen und Ihre Berufsethik mit Füßen getreten.“

Carlos, der als Beruf stets „Revolutionär“ angibt, hat sich in der Isolationshaft in französischen Gefängnissen auf den Kampf in und mit der Justiz spezialisiert. In beinahe perfektem Französisch hat er Dutzende von handschriftlichen Beschwerden verfaßt: An den auf Terrorfälle spezialisierten französischen Untersuchungsrichter Jean-Louis Bruguière, der Beweisstücke aus der Akte zurückhalte. An den Präsidenten des Schwurgerichtes, Yves Corneloup, der den „Anti-Franzosen“ auf den Leim gehe. An einen Journalisten, der über Carlos' Vater geschrieben hatte, er sei ein „Champagner-Sozialist“. Und vor allem an die rund 30 Anwälte, die sich an seiner Verteidigung versucht haben und über ihr Mandat anschließend Dinge feststellten wie: „von der Polizei infiltriert“, „steckt mit dem Richter unter einer Decke“ und „ist ein Verräter“.

Aus dem meistgesuchten Mann der Welt, der auf ein weitgespanntes Netz von Freunden und Unterstützern bauen konnte, ist ein einsamer Querulant geworden. Vor dem Pariser Schwurgericht kann er bloß noch auf sich selbst und auf drei Anwälte bauen, die er erst in den letzten Monaten engagiert hat. Jeder der drei steht symbolisch für ein Kapitel aus Carlos' Leben. Isabelle Coutant Peyre hat früher Mitglieder der bewaffneten Action Directe verteidigt, die den „anti- imperialistischen Kampf“ der 70er Jahre in der „Metropole“ führte. Hani Sliman vertritt bewaffnete palästinensische Kämpfer vor dem Gericht in Beirut. Und Milagros Irureta-Ortiz kommt aus seinem Heimatland Venezuela. Die Schießerei, um die es bei dem heute beginnenden Schwurgerichtsverfahren geht, nimmt sich in Carlos' Biographie wie ein Detail aus. Bekannter sind die Entführung des französischen Botschafters 1974 in Den Haag, neben der spektakulären Geiselnahme von 11 Ministern auf dem Opec-Gipfel 1975 in Wien, neben den Bombenattentaten auf Hochgeschwindigkeitszüge, einen Bahnhof, ein Kaufhaus und eine Zeitungsredaktion in Frankreich, sowie Attentate in London und Berlin, mit insgesamt über 80 Toten und Hunderten Verletzten, die ihm ebenfalls zur Last gelegt werden. Für keine der Attentatsvorwürfe ist bislang jedoch ein Verfahren vorgesehen.

Am Abend des 27. Juni 1975 hatte der Libanese Michel Moukharbal drei angeblich unbewaffnete Polizisten der französischen Spionageabwehr DST in ein Appartement an der Rue Toullier im V. Pariser Arrondissement geführt, das von venezolanischen Studentinnen angemietet war. Carlos soll dort zwei Polizisten sowie den Libanesen erschossen und den dritten Polizisten verletzt haben. 1982 hatte die französische Justiz Carlos in Abwesenheit zu lebenslänglich verurteilt. Nachdem er 1994 im Sudan in die Hände der französischen Behörden gefallen war (siehe Interview), mußte das Verfahren neu aufgerollt werden.

Warum über drei Jahre vergingen, bevor Carlos heute vor Gericht kommt, ist allein mit der notorischen Überlastung des französischen Antiterror-Untersuchungsrichters Bruguière schwer zu erklären. Schließlich hätten schon seit dem ersten Verfahren 1982 alle notwendigen Dokumente vorliegen müssen. In den vergangenen drei Jahren stellte sich jedoch heraus, daß zahlreiche Aussagen der Augenzeugen von der Rue Toullier verschwunden sind. Daß der verletzte Polizist Herranz, der zwischenzeitlich eines natürlichen Todes gestorben ist, nie als Zeuge vernommen wurde. Und daß die zahlreichen Chefs von französischer Polizei und Justiz, die bereits wenige Minuten nach der Schießerei in der Wohnung versammelt waren, auch nie ausgesagt haben.

Carlos bestreitet heute die Vorwürfe von der Rue Toullier. Vor beinahe zwei Jahrzehnten allerdings, als er noch Gast bei den Regierungen in Syrien, Libanon, Libyen, Algerien und in Osteuropa war, veröffentlichte die pro-irakische Zeitung Al Watan al Arabi 1979 ein Interview mit ihm, in dem er sich der Schüsse auf die Polizisten und den „Verräter Moukharbal“ pries. Heute behauptet der gebürtige Venezolaner, dieses Interview nie gegeben zu haben.

„Lieber Genosse“, hat Carlos im Mai 1995 in einem seiner letzten Briefe an den Schweizer Altnazi und Bankier François Genoud geschrieben, „ich bin glücklich, daß Jacques Chirac, den wir seit 20 Jahren unterstützt haben, Präsident geworden ist.“ Aber die Hoffnung auf eine „positive Wendung für die Sache Palästinas“ erfüllte sich nicht. 1996 nahm sich Genoud, der einzige Nicht-Jurist, der Carlos je in seiner französischen Haft besucht hat, das Leben. Damit fielen auch die unregelmäßigen Überweisungen aus der Schweiz weg. Heute wird Carlos nur noch von seiner Familie unterstützt.