Diogenes is a Punkrocker

Vom Maskenball zum Hasse-ma-ne-Mark: Der Religionswissenschaftler Rudi Thiessen untersucht den Zusammenhang von Punk, Proust, Poe und Speed. Auch Kynismus ist im Spiel – in der Mischung von Bedürfnislosigkeit und animalischer Bedürfnisbefriedigung  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Beim Lesen von „Urbane Sprachen“, dem neuen Buch des Berliner Religionswissenschaftlers Rudi Thiessen, denkt man ein bißchen an jenen Moderator, der in dem Who-Film „The Kids Are Alright“ besonders kluge Sätze über den Zusammenhang von Protestbewegungen, Marxismus und The Who sagte und Pete Townshend dann fragte, was denn der darüber denke. Townshend antwortete mit einem stilvoll hingenölten „Äh“ und „Yes“.

Schon in seiner 1981 erschienenen Dissertation „It's only Rock'n'Roll“ hatte Thiessen versucht, Rockmusik und vor allem die Who mit Freud und Frankfurter Schule zu lesen. Sein steifes Beharren auf „uteralen Beats“ wirkte dabei zuweilen etwas angestrengt und nicht so schön. Wer keine große Lust hat, sich auf die Sechziger-Jahre- Begrifflichkeit einzulassen, kann Thiessens neues Buch „Urbane Sprachen – Proust, Poe, Punks, Baudelaire und der Park“ als Fußballspiel lesen; die Gegner, gegen die er zusammen mit dem Berliner Religionswissenschaftsguru Klaus Heinrich, mit Benjamin, Proust, Poe, den Mods und den Punks antritt, wären dann Ernst Jünger, Deleuze, Kojève, die Poststrukturalisten und die Hippies. Vielleicht ist es auch eine Autobiographie: Weil sich der Autor in den sechziger Jahren den Mods verbunden fühlte, verfällt er gern in die klassischen Popdichotomien: Auf der einen Seite stehen dann die sowohl speedfressenden als auch geschlechtsbetonten Jugendkulturen (was immer witzig ist: Speed macht schließlich impotent), die extrovertiert Wirklichkeit verarbeiten; auf der anderen die harmoniesüchtigen Wirklichkeitsverdrängerhippies mit ihren angeblich so lahmen Ausstiegsdrogen (Hasch), ihrer Nähe zu Innerlichkeit, Esoterik und ostasiatischen Philosophien.

Es überrascht also nicht sonderlich, daß auch der Wissenschaftler Thiessen Punks prima findet: „Keine der diskutierten kynischen Protestbewegungen [...] kam geschichtsphilosophisch in ähnlich gehobener Stimmung daher“, keine beherrschte auch das System der „Spiegelvorhaltungen“ so gut wie die Punks, schreibt Thiessen. Punks wählten eine existentiell- ironisch-provokative Verkleidung, die allerlei bedeuten konnte: Uns gefällt es, als das aufzutreten, wofür ihr euch schämt; wir sind der Müll, den ihr gern beseitigen würdet. Deshalb auch die Zielscheiben auf den Lederjacken.

Zwei Analogien – mehr sind es nicht – zu geschichtlichen Figuren stellt Thiessen her. Die Masken der Punks erinnern ihn an Baudelaire, der sich die Haare grün zu färben pflegte, um damit „das inszenatorische Wissen“ auszudrücken, daß der Dichter „Mimesis an seine Waren zu treiben hat [...]“, mehr noch, „daß nicht-regressive Verfassung von Subjektivität nurmehr warenförmig zu haben sei“. Es gibt aber auch eine Verbindung zu Diogenes, der gleichzeitig Bedürfnislosigkeit und unmittelbare Befriedigung der animalischen Bedürfnisse predigte.

Mit Sloterdijk sieht Thiessen eine „kynische“ Intelligenz der Großstadtkinder am Werk. Einer Lebenswelt, in der Erlebnis und Ereignis an die Stelle von Erfahrung und Geschichte getreten sind, und in der der Schock „im strikten Sinne das Allgemeine“ geworden ist, begegnen die Punks mit Blasiertheit. Mit Klaus Heinrich interpretiert Thiessen diese Haltung als Form des Handelns: „Zynismus ist Selbstbehauptung um jeden Preis, also auch zum Preis des Anspruchs auf Selbstverwirklichung.“ Die Inszenierung sei „dem Kyniker essentiell, weil sein Modus der Kritik nicht der des Argumentierens ist, [...] sondern der des Zeigens und/ oder der Aktion“.

Die subjektive Seite des Protests findet Ausdruck im Begriff der Maske. Den anstürmenden „Chocks“ (Benjamin) des entwickelten Verkehrs und der Warenwelt halten Punks keine harmonistischen, „eigentlichen“ Selbstkonstruktionen entgegen, sondern Artefakte – Masken eben, die es dem Einzelnen erlauben, der „Identität, die einem angetan worden ist“ zu entfliehen.

An diesem Punkt arbeitet Thiessen sich zu Erkenntnissen vor, wie sie die britischen Cultural Studies um Stuart Hall und Dick Hebdidge auf semiotisch-strukturalistischem Wege machten: provokative Subjektivität als Ergebnis von „bricolage“. Maske ist „Stil“, und Stil ist für Thiessen „das Nichtidentische der Identität, das es zu retten gilt“. Möglich ist das nur in der punkistischen Negation, nicht in der Hoffnung auf ein hippieskes Jenseits.

Viele dieser Erkenntnisse sind auf dem Cultural-Studies-Wege inzwischen in die Rocktheorie eingeflossen, wie sie sich seit etwa zehn Jahren auch hierzulande – jenseits der Akademien – bei popinteressierten Abiturienten herausgebildet hat. Thiessens an der Kritischen Theorie geschulter Grundton wirkt gelegentlich bemüht, grenzt sich andererseits allerdings auch durch eine Abstraktheit, die einem zuweilen anachronistisch entgegenguckt, von der im Popdiskurs recht beliebten Sprache der Kommunikationsdesigner ab.

Einiges ist auch unmittelbar einleuchtend, etwa wenn Thiessen über Mode spricht und Stil als Wechselspiel von Negation und Reprise beschreibt: Für die Frauen, die 1966 in Minis durch die Gegend liefen, bedeuteten sie einen Teil ihrer Emanzipation. Ab 68 kam der Backlash mit indischen Flattergewändern, mit Punk schließlich das Zitat eines Emanzipationsversuchs. Denn während die Älteren mit Miniröcken gegen die Sexualmoral der sechziger Jahre protestierten, waren die Miniröcke der Punkladies „Satire auf jene, die diese Moral kritisierten“. In Miniröcken amüsierten sich die Punkerinnen über die, die das je für elegant halten konnten: „Ihr habt genauso bescheuert ausgesehen wie ich jetzt, nur habt ihr das nicht gewußt.“

Das Ende vom Lied – auch hier trifft Thiessen sich mit dem Cultural-Studies-Approach, der seinerseits den Absorptionsprozeß von Sub- und Mainstreamkultur reflektiert – ist immer die Verfestigung von Maske zu Identität. Die Elendspunker vor den Kaufhäusern ähneln so den Helden des Beckettschen „Endspiels“: „Festgelegt auf einen spezifischen Ausdruck“ ist ihr Protest „reines Warten“ – ein Warten, in dem die Distanz nicht mehr hergestellt werden kann zu einer Gegenwart, in der, wie man so sagt, viel geschieht und nichts passiert.

Rudi Thiessen: „Urbane Sprachen – Proust, Poe, Punks, Baudelaire und der Park“. 239 Seiten, Verlag Vorwerk 8, Berlin 1997, 48 DM