"In Rußland regiert die Korruption"

■ Grigori Jawlinski, Wirtschaftsfachmann und Vorsitzender der liberalen, oppositionellen Partei Jabloko in der Duma, über das verkrustete System, die Unfähigkeit der amtierenden Regierung zu Reformen und

taz: Herr Jawlinski, Sie sind Rußlands Saubermann. Von den namhaften Politikern des neuen Rußlands haben Sie es geschafft, ohne Skandale auf sich aufmerksam zu machen. Warum laufen die von Unlauterkeit und Korruption enttäuschten Bürger nicht scharenweise zu Ihnen über? Spielen Ehrlichkeit und Anstand keine Rolle mehr

Grigori Jawlinski: Grundsätzlich bin ich keine Ausnahme. Dem Gerede über meine Redlichkeit möchte ich nicht noch mehr hinzufügen. Von einem Politiker erwarte ich Aufrichtigkeit, und ich glaube, in anderen Gemeinwesen entspricht das auch der Norm. Nur in Rußland stellt jemand, der ohne Skandale auskommt, ein Unikum dar. Wie man sieht, reicht es nicht, um alle unzufriedenen Wähler anzusprechen. Immerhin kam ich bei den Präsidentschaftswahlen als vierter ins Ziel und unsere Partei Jabloko baute ihre Position im Parlament von Wahl zu Wahl aus.

Sie haben mehrfach Angebote erhalten, einen Regierungsposten zu übernehmen. Dennoch meiden Sie jegliche Tuchfühlung mit der Regierung. Was fürchten Sie?

Würde ich mich auf eine Mitarbeit einlassen, könnte ich meine Vorstellungen trotz allem nicht wirklich durchsetzen. Warum sollte ich mich der Regierung als Dekoration zur Verfügung stellen und die Kulisse bereichern. Wer Einfluß ausüben will, braucht in Rußland mindestens drei Voraussetzungen: ein besonders gutes Verhältnis zum Präsidenten, einen direkten Draht zum Premierminister und die Zusage, seine eigene Mannschaft aufstellen zu dürfen. Staat und Religion sind bei uns nach dem Hofreglement einer absolutistischen Monarchie aufgebaut. Obwohl sie aus Wahlen hervorgeht, fühlt sie sich keineswegs an den Willen des Souveräns gebunden. Die Regierung wirkt in der Funktion eines Hofkabinetts des Präsidenten, um den sich Favoriten und weniger gelittene Chargen tummeln. Kurzum, ein byzantinisches Hofgefüge. Allein das Verhältnis zum Kopf der Pyramide, dem Monarchen, entscheidet über dein Standing bei Hofe.

Byzanz ging sang- und klanglos unter...

Und diese Regierung ist auch nicht in der Lage, Reformen umzusetzen und wirtschaftliches Wachstum zu stimulieren. Seit den Präsidentschaftswahlen befinden sich Gesellschaft und Wirtschaft in der Stagnation, obwohl gerade jetzt schnelle und dynamische Maßnahmen vonnöten waren. Statt dessen betreibt der Präsident seine bekannte Personalpolitik. Erteilt mal diesem oder jenem einen Rüffel, erhebt oder degradiert ihn, um die eigene komfortable Machtbasis zu sichern. Das lähmt die Entwicklung.

Sie zeichnen ein finsteres Bild, wie es auch im Westen mittlerweile gang und gäbe ist. Die Katastrophenszenarien der letzten Jahre haben sich dennoch allesamt nicht bewahrheitet.

Wir leben in einer korporativen Oligarchie, die sich auf Monopoleigentum stützt und auf einer kriminellen Grundlage beruht. Wir kennen weder echte Konkurrenz und einen Markt noch transparente Spielregeln, und keiner ist bereit, in strategisches Eigentum zu investieren. Da war der Streit um wirtschaftliche Pfründen und Einflußsphären anfangs im Vergleich zur Schlacht um die Macht noch harmlos. Jetzt regiert die Korruption, und die Rechte der Bürger werden mit Füßen getreten. Leider zeigt die Führung kein Interesse, dem Einhalt zu gebieten und etwas Neues zu kreieren. Wie wenig ein couragierter Einzelkämpfer ausrichten kann, offenbarte das Schicksal von General Alexander Lebed, der nach einigen Wochen im Amt einfach neutralisiert wurde.

Nachdem Vizepräsident Tschubais beim Finanzmagnaten Beresowski und Medienzar Gussinski in Ungnade gefallen ist, kursieren Gerüchte, die nicht gerade zimperlichen Oligarchen möchten Sie zum Gegenkandidaten aufbauen. Hätten Sie da keine Berührungsängste?

...die nächsten Wahlen werden es zeigen.

Wie finanzieren Sie bisher Wahlkampf und Parteiarbeit?

Es gibt mittlerweile in Rußland Kreise, denen daran liegt, die Spielregeln zu ändern. Leute, die über genügend Mittel verfügen und sich stark genug fühlen, um langfristig ein stabileres politisches System zu errichten. Sie finanzieren meine Partei, und ihre Unterstützung reicht auch aus.

Vielleicht ein Deut konkreter?

Sie wissen doch, um darüber in Rußland offen...

„Heimlich träumt der russische Kapitalist von einem Gebäude, in dem Kirche, Bordell und Restaurant unter einem Dach vereinigt sind“, provozierte kürzlich eine angesehene russische Zeitung. Und Sie haben gesagt, Ihr Kampf gilt nicht den Menschen, sondern der Struktur der russischen Lebensweise seit tausend Jahren. Passen diese beiden Aussagen nicht irgendwie zusammen?

Jedem wildwuchernden Kapitalismus schwebt diese Art von Dreifaltigkeit vor Augen. Der Kapitalismus innerhalb einer zivilen Gesellschaft, die einer gemeinsamen Ethik verpflichtet ist, bringt beeindruckende Ergebnisse hervor. Fehlen die Kontrollinstanzen, funktioniert allein der Mechanismus Einnehmen und Ausgeben, dann sieht es so aus wie bei uns. Früher versorgte der Erdöl- und Erdgassektor aus dem Erlös der Rohstoffe 70 Prozent der Sowjetunion. Heute, nachdem die Einnahmen aus dem Energiebereich privatisiert worden sind, teilen sich maximal hunderttausend diesen gigantischen Profit. Ohne diese Mittel kann unsere Wirtschaft nie wieder richtig auf die Beine kommen. Die Laster und Untugenden, die uns bedrücken, lassen sich aber nicht allein aus Fehlern der jüngsten Vergangenheit erklären. Sie wurzeln tief in der tausendjährigen russischen Geschichte.

Eine mutige These, gewöhnlich werden Amoralität und Verlotterung der Sitten den siebzig Jahren Bolschewismus in die Schuhe geschoben.

Das greift zu kurz. Natürlich markiert das Jahr 1917 einen dramatischen Wendepunkt, dem Jahrzehnte Unterdrückung folgten. Plötzlich fiel den Massen dann die Freiheit in den Schoß. Hätten sie sich überhaupt anders verhalten können, als sich hemmungslos zu geben und alles um sich herum aufzusaugen? Woher sollten da der moralische Maßstab und das Einschätzungsvermögen, ob etwas gut oder schlecht ist, denn stammen? Die erdrückend übermächtige Rolle des Staates, die verächtliche Haltung gegenüber der Würde des Menschen und die völlige Bedeutungslosigkeit liberaler Werte schufen nicht nur die Voraussetzungen, sondern nährten vortrefflich jene Auswüchse, mit denen wir heute konfrontiert sind: Korruption, Verbrechen, Erpressung, Rechtsignoranz, Willkür im Umgang mit den Bürgern und Diebstahl. Rußland kann aber auch auf eine andere Seite verweisen. Integre Menschen mit einem starken moralischen Anspruch. Sie bilden das Fundament, auf dem eine andere Politik ansetzen kann. Sobald die Bürger ihre Passivität aufgeben, den Wandel wirklich wünschen, rückt das Ziel auch näher.

Haben Sie keine Angst, daß Ihr moralischer Rigorismus, der Züge einer protestantischen Ethik offenbart, die Mehrheit der Russen abstößt? Auch wenn sie keine praktizierenden orthodoxen Gläubigen sind, orientieren sie sich doch am überkommenen Wertesystem.

Selbstverständlich möchte ich mein Volk mit Dingen vertraut machen, die bisher weit von seiner Vorstellungswelt entfernt liegen. Insofern haben wir sogar eine aufklärerische Aufgabe zu erfüllen. Ich sehe sehr viel Positives in der Wirtschaftsethik und den rationaleren Lebensentwürfen in protestantischen, aber auch katholischen Ländern. Warum sollte es uns schaden? Ich handele nicht nach der Maxime, was bringt zunächst mehr Stimmen. Entscheidender ist, was nützt dem Land à la longue? In Rußland dreht sich die Politik immer noch um einander ausschließende Lebensphilosophien. Kommunistenchef Gennadi Sjuganow vertritt nicht nur die Kommunistische Partei, er repräsentiert ein Segment der Gesellschaft, das das gleiche Lebensprinzip teilt. Dasselbe gilt auch für den Chauvinisten Wladimir Schirinowski. Einzelne Politikschritte, mögen sie im Alltag der Bürger auch noch so einschneidende Folgen zeitigen, seien es Renten- und Steuergesetzgebung oder die Zollpolitik, setzen bei weitem nicht so viele Emotionen frei. Buhlen im Westen Politiker um die Wählergunst, fragen die Bürger zunächst: Wer ist fähiger und dient unserem Anliegen? Nicht bei uns. Mit der sehr russischen Tradition hadere ich und weise immer wieder auf die fatalen Konsequenzen hin. Denn sie hat unser Volk in tausend Jahren nicht glücklich gemacht.

Die Jugend hat das doch schon begriffen.

Jabloko wirbt ausdrücklich damit, eine Partei „europäischer Werte“ werden zu wollen. Im Vergleich zu anderen Organisationen herrscht in unseren Reihen innerparteiliche Demokratie, die Führungsgremien werden von der Basis gewählt. Bei uns arbeiten viele Jugendliche mit, die die Möglichkeiten heute nutzen, Zeitungen, wissenschaftliche Werke und Belletristik aus dem Ausland zu lesen. Ich bin zuversichtlich, in Zukunft wirkt sich das auch auf das Wertesystem aus. Wenn die Globalisierung dazu beiträgt, die zivile Gesellschaft verankern zu helfen und die Menschenrechte zu achten, können wir sie nur begrüßen.

Haben Sie noch Kontakt zu den ehemaligen Mitstreitern der ersten Stunde, den Reformern Jegor Gaidar und Anatoli Tschubais?

Unsere politischen Überzeugungen weichen prinzipiell voneinander ab. In meinen Augen sind sie als Architekten, die den Grundstein des Systems gelegt haben, heute auch für dessen halbkriminelle oligarchische Ausformung verantwortlich.

Haben Sie die Konzentration der Presse in den Händen einiger weniger Finanzmogule im Laufe der letzten anderthalb Jahre am eigenen Leibe zu spüren bekommen?

Selbstverständlich. Der Zugang ist reglementiert, seitdem das große Geld die Medien kontrolliert. Im Westen regiert auch das Geld, nur sitzen in Rußland die Eigentümer fast alle gleichzeitig in der Regierung oder halten sich in unmittelbarer Nähe auf.

Ihnen eilt der Ruf voraus, ein Narziß zu sein. Schadet Ihnen das nicht, das hochgesteckte politische Ziel schneller zu erreichen?

Die Presse kritisiert mich und wirft mir vor, ich wolle unbedingt Präsident werden. Offen gesagt, mir geht es um viel mehr: In zwanzig oder dreißig Jahren möchte ich mich auch an die Leser Ihrer Zeitung wenden und sagen können: Sie haben nicht geglaubt, Rußland sei in der Lage, sich aus dem Morast zu befreien, die Korruption zu unterbinden und ein Gesundheits- und Bildungswesen aufzubauen, das den Anforderungen der entwickelten Industrieländer entspricht. Schaut her, es ist vollbracht, und ich habe daran mitgewirkt. Interview: Klaus-Helge Donath