Die stille Schildkröte

■ Die Band Tortoise öffnete das Tor zur Zwischenwelt namens Post Rock. Ihr neues Album "TNT" vereinigt Virtuosität und digitale Produktion

„Ich werde hier herübergeflogen und quer durch Europa gefahren, zig Leute wollen mit mir sprechen – das ist doch lächerlich. Viele von den Musikern, die ich verehre, werden dagegen völlig vergessen“, ärgert sich John Herndon. Vor acht Jahren mitbegründete er in Chicago die Band Tortoise, die spätestens 1996 mit „Millions Now Living Will Never Die“ zum Hoffnungsträger eines Publikums avancierte, dessen Heimat im Land von Alternative Rock verloren scheint und noch kein Zuhause in den neuen Szenen zwischen technoider Tanzfläche, trägem TripHop und Elektronika fand. Doch für Herndon steht schon fest: „Nächstes Mal werde ich diese Werbetour nicht mehr über mich ergehen lassen.“ Dann wird den hiesigen Musikjournalisten eben ein anderes der vier Bandmitglieder schweigsam gegenübersitzen und wenig Neigung verspüren, das Geheimnis von Tortoise zu lüften.

Geheimnis? Legt man mit der Rede vom Geheimnis nicht zuviel Gewicht auf eine Musik, deren Intention im Grunde leicht nachvollziehbar ist? Biographisch verkörpern die Tortoise-Musiker die Geschichte des US-Underground, der sich aus der Punkzeit durch die achtziger Jahre zog und für den das strikte Ethos des unabhängigen, von großen Plattenfirmen und vermarktbaren Trends weit entfernten Agierens charakteristisch war. Diese Haltung haben Tortoise konserviert. Bei der Bandgründung stand fest, daß man sich nicht den konventionellen Mustern des Spielens und Produzierens unterordnen wollte – was schon mit der Instrumentierung anfing: Ihre Stücke sind instrumental, und zwischen Baß, Keyboard, Perkussion und Sampler öffneten die Musiker, mit der Benutzung von Marimbas und Harmonika, den weiten Raum zwischen Minimal Music und Dub. Stand das Publikum anfänglich noch etwas ratlos vor den seltsam anmutenden Arrangements, in denen sich Krautrock-Improvisation, Easy Listening und Jazz-Atmosphäre vermischten, wurde das Phänomen deutlicher, als die Band ihr Debüt-Album neu bearbeiten ließ. Unterschiedliche Produzenten nahmen sich Sounds und Rhythmen des Ursprungsmaterials vor und interpretierten es am Mischpult neu. „Rhythms, Resolutions & Clusters“ legte Anschlüsse an Musiken, die bisher nicht viel miteinander zu tun hatten, zwischen denen sogar – von der musikalischen Sozialisation ihrer Vertreter und Fans her betrachtet – strikte Trennung herrschte. Das Remixing galt als Domäne der Techno-, House- und Dub-Musik, doch mit Tortoise machte sich diese Techniken nun eine Band zu eigen, deren Wurzeln in der IndieRock-Geschichte lagen: Damit war ein Tor aufgetan zu einem Zwischenfeld, für das seit einiger Zeit der Begriff „Post Rock“ kursiert.

Die neue Tortoise-CD, „TNT“, zeugt von zweierlei: einer Rückbesinnung auf das Moment der Virtuosität, das sich in herkömmlich klingenden, eher dem klassischen Songformat verpflichteten Arrangements und zum Beispiel der Einbeziehung von Bläsern zeigt; und zweitens der Versiertheit, dies auch in der Nachbearbeitung bruchlos umzusetzen. Wurden auf ihrem letzten Album akustisches Zusammenspiel und digitale Produktion noch harsch konfrontiert, werden diese Bereiche auf „TNT“ integriert. So versinkt etwa ein balladenartiges Instrumental in dem Moment, wo eine Crooner- Stimme wie die von Nick Cave zu erwarten wäre, in einer wahren Mischpultorgie, ohne die zuvor aufgebaute Magie zu zerstören.

Subtilität ist die Stärke dieser Band, die sich über die Jahre eine Sicherheit erspielt hat, mit der sie geschichtlich beladene Genres mit den avancierten Mischtechniken verbindet – das eine nicht auf die Kosten des anderen. Auf der Höhe der Zeit steht sie dort nicht und hängt ihr Fähnchen in den Wind, sondern schreitet scheinbar mühelos voran. Ohne daß sie dabei selbst zu artikulieren wüßte, was das Banner, das sie trägt, bedeutet. Martin Pesch

Tortoise „TNT“ (City Slang/Efa)