Willkommen im Privaten

Ist dies der Beginn eines Alterswerkes? Ausgerechnet anhand von Sartres „Schmutzigen Händen“ beginnt sich Frank Castorf für das Menschliche zu interessieren. Das Politische verwischt in der Berliner Volksbühne dabei ins Irgendwie, dafür blinkt rührender Glamour  ■ Von Petra Kohse

Ein einsamer Flügel auf schräger Weiße. Weiter oben etwas, das aussieht wie ein Fleischtopf, tatsächlich aber der dampfende Eingang in die Kanalisation ist, in deren geschönten Gefilden sich im folgenden alles abspielt. Passend dazu spielt vom Band die Blaskapelle aus Kusturicas Film „Underground“ auf, liebt ein Mann zwei Frauen nicht, zeigt ein echter Affe zwischen unechten Palmen wie man Nüsse knackt, halten noch einmal die Blues Brothers her, wird wild getanzt, jongliert und mit Platzpatronen geschossen.

Dennoch handelt es sich bei „Schmutzige Hände“ nicht nur um eine weitere Castorf-Inszenierung. Ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung macht sich der Chef der Berliner Volksbühne nicht einfach in gehabt zynischer Weise über Sartres Drama her. Statt die Geschichte inhaltlich auseinanderzunehmen, stülpt er sorgsam das Futter nach außen. In den Figuren, die bei Sartre vor allem Ideenträger sind, sieht er, Castorf! – das Menschliche.

Das ist bei diesem Stück erwartungsgemäß keine ergiebige Angelegenheit. Auch zeigt sich, daß die als Selbstdarsteller brillanten Volksbühnenschauspieler zur sogenannten Menschendarstellung nur begrenzt in der Lage sind. Aber es ist alles doch sehr anrührend in seiner versuchten Innerlichkeit und auch ein bißchen traurig. Frank Castorf läßt stellenweise Text sprechen, wie er geschrieben steht (wenn auch im leicht ironisch überhöhten Ton), läßt die Schauspieler — Henry Hübchen, Silvia Rieger, Matthias Matschke, Kathrin Angerer — den Text nicht (oder kaum) kommentieren, bleibt im Kostüm der 40er Jahre und schmiegt sich auch sonst recht dicht an das Stück. Was dazu führt, daß es neben der gewohnten hektischen Eleganz etwa diverser Tanzeinlagen geradezu erschütternd hölzerne Dialogszenen gibt, die aber wohl auf eine echte Erschütterung hinweisen sollen. Darauf, daß es, obwohl es keine Ideologien mehr gibt und keinen Sinn und kein Wofür, daß es trotz alledem Krieg gegeben hat in Europa und Verbrechen und Gewalt.

Im fiktiven Balkan-Staat „Illyrien“ wird bei Sartre Hugo aus der Haft entlassen. Im Auftrag der kommunistischen Partei, aber auch aus Eifersucht, hatte er den abtrünnigen Parteisekretär Hoederer ermordet, doch mittlerweile ist dessen Politik zur offiziellen Linie erklärt worden — und Hugo gilt als nicht mehr „verwendungsfähig“. In Rückblicken wird die Geschichte erzählt und nicht die Geschichte der Geschichte, wie es Castorfs bisherigem Stil entsprochen hätte.

Denn im Januar 1949 im Westberliner Renaissance-Theater aufgeführt, wurde dieses Stück sofort im Kalten Krieg funktionalisiert. Die Ostberliner Kritiker boykottierten die Aufführung als antikommunistisch. Das war auch eine Antwort auf den Aufruf zum Boykott sämtlicher Ostberliner Institutionen im Tagesspiegel wenige Wochen zuvor, der eine Antwort auf die Gründung eines Ostberliner Splittermagistrats war.

Diese Historie aber ist Frank Castorf im einzelnen ebenso egal wie die Parteilinienkämpfe, die Sartre verhandelt (siehe Text unten). Sogar daß er mehrfach direkt in den jüngsten Balkankrieg überblendet, scheint eher emotionalisierende Gründe zu haben, wofür schon die Unterlegung von Bregovićs Musik zu „Underground“ bürgt.

Als schieres Irgendwie will auch das Übergleiten von Sartres Realpolitiker Hoederer, gespielt von Henry Hübchen, in Karadžić, den Präsidenten des bosnischen Serben, verstanden werden. Wozu paßt, daß sich die Anklageschrift des Tribunals gegen die Menschenrechtsverbrecher Karadžić und Mladić auf der Rückseite des Programmplakats kaum lesen läßt, so klein und grau wie sie in armlangen Zeilen gedruckt ist.

Und wenn sowohl die Kommunistin Olga als auch Jessica, die Frau von Hugo, plötzlich Texte von Kindern zitieren, die während des Balkankriegs zu Zeugen von Gewalttaten geworden sind, dann erscheint, was sie im Stück tun, bloß als Folge schlimmer Ereignisse. Als Reaktion auf eine Reaktion auf eine Reaktion: Das Böse ist immer und jenseits der Ideologie. Genügt einem das? Natürlich nicht, dann aber wieder: ja. Denn trotz allem geht es Castorf um etwas. Um die tragische Einsamkeit von Hübchens alterndem Hoederer, um die als Nicht-Liebe getarnte Liebe von Jessica (Kathrin Angerer) zu Hugo (Matthias Matschke), um dessen erfolglose Selbstfindungsversuche oder Olgas (Silvia Rieger) durch Ideologie kaschierte Zuneigung zu ihm.

Nicht Hysterisch-Besserwisserische, sondern Traurig-Scheiternde stehen diesmal auf Castorfs Bühne. Und ein neues Traumpaar blinkt rührenden Glamour ins Publikum: Kathrin Angerer und Matthias Matschke. Ihre kindliche Grandezza und siegreiche Laubsägearbeit an den allerletzten Nerven, und seine weinerliche Tapsigkeit und treuherzige Komödiantenlust sind im Doppel unschlagbar. Nur Typen zwar auch das, aber abendfüllende.

Einen ernsthaft fragenden Grundton bei zeitgemäßer Entgleistheit im Detail hat diese Arbeit, eine sympathische Unfertigkeit auf Hartmut Meyers Untergrund-Drehbühne, daß man sich ganz neu zu interessieren beginnt für die Welt, wie Frank Castorf sie sieht. Wenn nur die sehr allgemein gehaltene politische Bescheidwissergeste nicht wäre. Ist dies der Beginn eines Alterswerks? Eine Zäsur ist es in jedem Fall. Willkommen im Privaten.