■ Iran: Nach Massenprotest ist der Reformer Karbaschi wieder frei
: Die Macht der Straße

Es war so eine Art iranische Antwort auf „Wir sind das Volk!“. Tausende IranerInnen gingen auf die Straße und sorgten dafür, daß die iranische Justiz Gholam Hossein Karbaschi, den Bürgermeister von Teheran, wieder freiließen. Zumindest kurzfristig bedeutet dieses Einknicken der konservativen Theokraten einen Sieg für die moderate Fraktion der iranischen Machthaber um Präsident Mohammad Chatami. Denn angesichts des Volkszorns spalteten sich Chatamis Gegner. Während Justizchef Mohammad Jasdi auf einer kompromißlosen Linie beharrte, siegte beim einstigen Gegenkandidaten Chatamis, dem Parlamentspräsidenten Ali Akbar Nateq Nuri, und beim mächtigen Religiösen Führer des Landes, Ali Chamenei, die Vernunft. Weil sie offene Revolten auf den Straßen der Islamischen Republik befürchten mußten, entschieden sie sich fürs Nachgeben.

Doch noch ist Karbaschis Schicksal ungeklärt. Kommt er vor Gericht? Wird er verurteilt? Freigesprochen? Begnadigt? Bleibt er Bürgermeister? Darüber wird in Teheran hinter den Kulissen verhandelt und damit auch über die Zukunft diverser Mächtiger.

Die Ereignisse haben jedoch auch die Schwäche Chatamis und der Seinen gezeigt. Einerseits hat der Präsident die Massen hinter sich, andererseits hat er sie nicht unter Kontrolle. Als die Regierung bat, die Demonstration abzusagen, wurde das von ihren eigenen Anhängern geflissentlich ignoriert. Dieser Ungehorsam läßt ahnen, was sich in den Köpfen vieler Chatami-WählerInnen abspielt. Insgeheim erhoffen sie sich von dem Hoffnungsträger mehr, als dieser je versprach. Teherans „Moderate“ stehen für den kleinen Wandel. Gewählt wurden sie, weil sie mehr Freiheit ankündigten und – vielleicht wichtiger noch – weil sie die einzige Alternative zu den verhaßten Herrschenden waren. In dem guten Dreivierteljahr ihrer Amtszeit hat die Regierung Chatami jedoch demonstriert, daß selbst der kleine Wandel unter der bestehenden Vorherrschaft der Konservativen in fast jeder Ecke des Staatsapparates kaum durchzusetzen ist. Aus Reformen wurden Reförmchen, aus manchem Wahlkampfversprechen gar nichts.

Kein Wunder, daß sich etliche Chatami-Wähler nicht mehr von ihrem Präsidenten beschwichtigen lassen. Sie protestieren für den Präsidenten notfalls auch gegen des Präsidenten Wunsch. Und in einigen reift wohl auch der Verdacht, daß die Islamische Republik gar nicht reformierbar sein könnte. Damit wächst die Wahrscheinlichkeit, daß Chatami von den selbst angekündigten Veränderungen überrollt wird. Er wäre nicht der erste als Reformer angetretene Politiker, den dieses Schicksal ereilt. Thomas Dreger