Pol Pot, dessen Tod die kambodschanischen Roten Khmer gestern bekanntgaben, wollte sein Land von Grund auf umwälzen. 1975 war das "Jahr Null", in dem die Revolutionsarmee Pol Pots eine Schreckensherrschaft installierte, die fast vier Jahre

Pol Pot, dessen Tod die kambodschanischen Roten Khmer gestern bekanntgaben, wollte sein Land von Grund auf umwälzen. 1975 war das „Jahr Null“, in dem die Revolutionsarmee Pol Pots eine Schreckensherrschaft installierte, die fast vier Jahre währen sollte: Städter, Intellektuelle und andere „Parasiten“ wurden zur Feldarbeit gezwungen oder ermordet.

Massenmord für eine Vision

Jedes Kind in Kambodscha lernt heute in der Schule, wie lange der Massenmörder Pol Pot einst herrschte, dessen Tod die Roten Khmer gestern bekanntgaben: „Drei Jahre, acht Monate und zwanzig Tage“. Eltern erzählen von dem Grauen, das an jenem 17. April 1975 begann, als die Bauernarmee der geheimnisvollen „Angkar“ (Organisation) mit ihren schwarzen Pyjama-Uniformen in Phnom Penh einmarschierte.

Niemand kannte die Führer dieser jungen Soldaten. Selbst die Geschwister des charmanten Lehrers Saloth Sar, der später einmal unter seinem Revolutionsnamen Pol Pot bekannt wurde, wußten nichts. Aber schnell wurde klar, daß die neuen Herren, die König Sihanouk Rote Khmer getauft hatte, mächtig und unerbittlich waren: Alle Bewohner der durch die Kriegsflüchtlinge auf über eine Million Menschen angeschwollenen Hauptstadt, so befahlen sie, müßten ihre Häuser verlassen und aufs Land ziehen – „sofort!“.

Die Freude über das Ende des Krieges gegen die Militärmachthaber unter Lon Nol wandelte sich in Entsetzen. Wer zögerte, wurde erschossen oder erstochen. Die Soldaten, häufig halbe Kinder noch, trieben die Kranken aus den Hospitälern. Sie warfen Patienten von Operationstischen und töteten jeden, der zu schwach war, sich dem Strom der Vertriebenen anzuschließen. In der Panik verloren Eltern ihre Kinder, Frauen ihre Männer, Geschwister irrten verlassen durch die Menge. Bis heute haben sich viele Familien nicht wieder zusammengefunden. Mindestens eine Million Menschen sollen auf Kambodschas „Killing Fields“ ihr Leben gelassen haben.

Phnom Penh wurde zur Geisterstadt, in der nur die neue Regierung und ihre Leibgarden blieben – und das berüchtigte Foltergefängnis von Tuol Sleng, wo bis zur Vertreibung der Roten Khmer um die Jahreswende 1978/79 über 16.000 Menschen ermordet wurden. Die unter der Folter erzwungenen Geständnisse der gefangenen „Verräter“, „Spione“ und „Agenten“ bewahrten die Roten Khmer sorgfältig auf. Wie die Nazis entwickelten sie eine gründliche Buchhaltung des Todes.

Die Evakuierung Phnom Penhs war nur der Auftakt. Die Revolutionsführer hatten in den langen Jahren, die sie im Dschungel gegen die von den USA unterstützte korrupte Regierung von Lon Nol gekämpft hatten, große Pläne entwickelt. Sie würden die Gesellschaft von Grund auf umwälzen. Aus dekadenten, vom Kapitalismus und von ausländischen Einflüssen verdorbenen Städtern würden „reine“ Landbewohner werden. Handel und Geld sollten abgeschafft, Intellektuelle, Mönche und andere „Parasiten“ ermordet oder zur Feldarbeit gezwungen werden. 1975 war das „Jahr Null“ einer neuen Zeitrechnung, in der Kambodscha wieder zur nationalen Größe wachsen würde – würdig der Vorfahren, die 800 Jahre zuvor die Tempel von Angkor Wat erbaut hatten. Dieses neue „Kampuchea“ würde dem alten Hauptfeind trotzen, dem Nachbarland Vietnam.

Um diese Vision zu erreichen, waren riesige Anstrengungen nötig: Tag und Nacht gruben die Kambodschaner Kanalsysteme und Dämme, legten Plantagen an, bauten Straßen. Familien wurden nach Alter und Geschlecht getrennt und in Produktionsteams über das Land verteilt. Hunderttausende starben an Erschöpfung und Hunger.

Erst ein Jahr nach der Machtübernahme der Roten Khmer tauchte Pol Pot in der Öffentlichkeit als ihr Führer auf. Der Kern der Gruppe hatte sich schon seit der gemeinsamen Studienzeit in Frankreich in den vierziger und fünfziger Jahren zusammengefunden. In Paris gründeten sie kommunistische Zirkel und gingen bald nach ihrer Rückkehr ins eben erst unabhängige Kambodscha – wo der junge König Sihanouk den Thron bestiegen hatte – in die Opposition. In den sechziger Jahren gingen Pol Pot und seine Gefährten, darunter der spätere Staatspräsident Khieu Samphan und Außenminister Ieng Sary, in den Untergrund. Dort bauten sie eine Widerstandsarmee auf. Arme Bauern, die unter dem feudalen System Kambodschas litten, schlossen sich den Intellektuellen an.

Als Sihanouk 1970 durch einen von der CIA gestützten Coup vertrieben worden war, rief er die Jugend des Landes auf, sich dem Widerstand anzuschließen. Tausende kamen damals zu den Roten Khmer. Die Flächenbormbardements der Amerikaner trieben immer mehr Kambodschaner in die Arme Pol Pots. Unterstützt von Vietnam und China, eroberten die Roten Khmer im April 1975 die Hauptstadt. Interne Machtkämpfe und Streit über die rigide Politik Pol Pots führten bald zu brutalen Säuberungen und Massakern innerhalb der Truppen und Parteiorganisation. Als die Vietnamesen 1979 einmarschierten, standen die Roten Khmer kurz vor dem Ende.

Doch sie überlebten mit Hilfe Chinas und des Westens, für die Vietnam im Kalten Krieg der Hauptfeind war. Bis zum Friedensabkommen von 1991 wurden die Roten Khmer von diesen Ländern wiederaufgerüstet. In der UNO durften die Roten Khmer auch nach ihrer Vertreibung aus Phnom Penh noch den Sitz Kambodschas vertreten. Bis vor kurzem bot Thailand Pol Pot und den Führern der Organisation Unterschlupf. Niemand versuchte je, Pol Pot oder die anderen hohen Funktionäre bei ihren Reisen im Ausland festzunehmen. Thailändische und Rote-Khmer-Generäle wurden enge Geschäftspartner – obwohl dies offiziell stets geleugnet wurde.

Bis heute rätseln die Biographen darüber, wie aus dem als liebenswürdig und überaus charismatisch geschilderten jungen Pol Pot „eines der mächtigsten Monster wurde, das die Menschheit jemals hervorbrachte“, wie König Sihanouk später sagte. Als Sohn einer wohlhabenden Bauernfamilie am 25. Januar 1925 geboren, lebte er später bei seinen Schwestern auf, die Tänzerinnen und Konkubinen bei Hofe waren. Nach seiner Rückkehr aus Frankreich, wo er Elektrotechnik studierte, arbeitete er als Lehrer in Phnom Penh, bis er in den Untergrund ging.

Bis zuletzt blieb Pol Pot ohne Reue: „Ich habe ein reines Gewissen“, sagte er im vergangenen Jahr in einem Interview. „Alles was ich getan habe, tat ich für mein Land.“ Jutta Lietsch, Bangkok