Die Atomlobby bestimmt, wo es langgeht

■ betr.: „Strahlend auf deutschen Gleisen“, „Auch deutsche Atom transporte strahlen“, „Atombe hörde zum Rapport befohlen“, taz vom 8. und 9. 5. 98

Tagelang verschwieg Reaktorsicherheits-Bundesministerin Angela Merkel die Verstrahlung von Atommülltransporten bis zum 500fachen der vom Staat als angeblich „unschädlich“ behaupteten Strahlendosis. Selbst die Atombombenmacht Frankreich läßt seitdem Atommüll aus Deutschland nicht einmal mehr zu der Plutoniumfabrik an der französischen Kanalküste passieren.

Dabei heißt es in der Merkel- Atompropaganda seit Jahren – zuletzt noch im März 1998 mit Blick auf die Atommülltransporte nach Ahaus: „Es besteht weder für das Begleitpersonal noch für Polizisten und Bürger ein Risiko, durch Strahlung geschädigt zu werden.“ Nachzulesen in hübsch mit Graphiken geschmücktem Propagandamaterial aus dem Merkel-Ministerium. Wenn man dem Gorbatschow-Beispiel Kanzler Kohls folgt, müßte man auch so etwas „Methoden der Goebbels-Propaganda“ nennen. [...] Hans Grossmann, Maintal

Die frühere Umweltministerin Frankreichs wird in der taz zitiert, sie habe der Nuklearindustrie vorgeworfen, sie sei so organisiert, daß sie unabhängig von politischer Kontrolle sei.

Dazu frage ich, warum hat die gute Frau das nicht geändert, als sie Umweltministerin war? Und wie ist es bei uns?

Das Grundgesetz garantiert das Recht auf körperliche Unversehrheit. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Kalkar-Entscheidung im Jahre 1978 (also vor Harrisburg und Tschernobyl) geurteilt, daß „Ungewißheiten jenseits der Schwelle praktischer Vernunft ihre Ursache in den Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens haben. Sie sind unentrinnbar und insofern als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen.“ Wo liegt nun die Schwelle praktischer Vernunft, entwickelt sich das menschliche Erkenntnisvermögen weiter? Wo endet Schadensvorsorge, und wo beginnt das nukleare Restrisiko?

Die Entscheidungsmacht darüber hat das BVerfGericht den Behörden zugesprochen. Schon das widerspricht meinem rechtsstaatlichen Empfinden. Eine derart weitreichende Entscheidung sollte allein von der Legislative getroffen werden. Doch darüber hat der Bundestag bislang nicht abgestimmt. Und auch für die Zeit nach Kohl haben SPD und Grüne Derartiges nicht vor.

Aber es ist ja noch viel schlimmer: In unserer Republik haben noch nicht einmal die Behörden, also Innenminister oder Umweltministerin, die erforderlichen sicherheitstechnischen Zielvorgaben gemacht, die für die Gesellschaft von fundamentaler Bedeutung sind, sondern sie hat die Definitionsmacht darüber an nichtstaatliche, weisungsunabhängige Kommissionen delegiert, die nur aufgrund von Organisationsakten des Bundesinnenministers existieren: die Reaktorsicherheitskommission, die Strahlenschutzkommission, den Kerntechnischen Ausschuß. In allen hat die Atomlobby die Mehrheit. Und der TÜV als von der Industrie gegründeter Verein darf alles „gut“achten, und die Genehmigungsbehörde betet alles nach. Der Bock wurde also zum Gärtner gemacht. Hierauf hat auch der grüne Energiestaatssekretär in Kiel kürzlich in einem Papier zu Recht hingewiesen.

Nur leider zieht er nicht die Konsequenz: In meinem Verwaltungsgerichtsprozeß um die Betriebsgenehmigung für das AKW Brokdorf (nächster Gerichtstermin 17. 6. 98), in dem er die beklagte Landesregierung zu vertreten hat, macht er nicht von seinem Recht Gebrauch zu definieren, was zur Schadensvorsorge erforderlich ist. Vielmehr verteidigt er die von der damaligen CDU-Landesregierung erteilte Genehmigung wegen möglicher Schadensersatzansprüche des Betreibers. Hier schließt sich der Kreis: Die Atomlobby bestimmt, wo es langgeht, und der Landeshaushalt hat Vorrang vor sicherheitstechnischen Notwendigkeiten. Karsten Hinrichsen,

Brokdorf-Kläger