Aus Fehlern lernen: Aufruf zur Escape-Parade Von Holger Wicht

Nein, diesmal nicht, bedaure sehr. Ich sag's lieber gleich, jetzt, da es gerade wieder losgeht. Also: In diesem Jahr will ich nichts mit der Love Parade zu tun haben.

Alle Jahre wieder: daß der Tiergarten vor hektoliterweise urinierenden, synchron trampelnd grasnabentieferlegenden Raverhorden zu schützen sei – d'accord. Einverstanden, wirklich, aber noch mal muß ich nicht davon lesen, darüber reden. Daß die Love Parade ja strenggenommen nicht politisch... der Veranstalter die Müllkosten... aber eben wichtig für Berlin, Metropole und so... – nicht schon wieder, bitte! Daß die Macher der Love Parade ja so kommerziell geworden seien, sich bloß bereichern wollten, Ausverkauf der Musik, der Idee und all das – ja ja, aber: ooch nee!

Und es ist ja nicht nur das. Wer wissen will, wie viele 15- bis 20jährige bundesweit zu seinem entfernten Bekanntenkreis zählen, braucht zu Zeiten der Liebesparade nur eine Wohnung in Berlin und einen Telefonanschluß. Im letzten Jahr suchte mich eine spätpubertäre Kleingruppe aus dem Badischen heim. Kurz vor deren Eintreffen hatte schon Christian (16) bei mir Quartier bezogen. Dem machte ich die Freude gerne. Genauer: Dem hätte ich die Freude gerne gemacht, wäre irgendeine Freude im Bereich des Möglichen gewesen. Es war dann so: „Laß uns besser der Parade vom Brandenburger Tor aus entgegengehen, sonst landen wir bloß in...“

Nö. Ein Lob der Jugend, die weiß, was sie will. In diesem Fall: von Anfang an dabeisein. Hören, was Dr. Motte sagt. Ein letzter zaghafter Versuch: „Das hörst du am besten im Fernsehen, und dann sind wir zu Fuß in aller Ruhe ruck, zuck...“ Nö. Also gut. U-Bahn- Fahrt, alles wie erwartet, nur schlimmer, Legebatterie, Dampfsauna. Dann doch nicht tot, sondern Mensch an Mensch an Mensch auf dem Ernst-Reuter- Platz, 40 Grad im Schatten, aber ohne Schatten, verschwitzte Raver und nicht mal diese großen Lastwagen, die Beats geladen hätten. Wo Dr. Motte so in etwa sich wohl aufhalten muß, läßt sich grob gerade noch abschätzen, weil die Kids in ähnliche Richtungen jubeln. Zu verstehen ist kein Wort. Da wollen meine Badenser Jugendlichen doch lieber gleich die 45 Mark für ein offizielles T-Shirt loswerden. Papa hätte jetzt gerne ein Bier, aber ich habe nicht die Kraft, mich durch die verschwitzte Menge zum offiziellen Bierverkauf... Immerhin Pfandbecher.

Als zahlreiche Teilnehmer nicht nur am Tor des Campus der Technischen Uni nahezu zu Tode gequetscht worden sind, wird das Tor geöffnet. Wir kämpfen uns aus der Masse hinaus auf den Campus. Durchatmen, ein paar Schritte gehen. Geht noch, wir sind unverletzt. Ein Schwarzhändler, ein Bier.

Auf diese Weise das Müllkonzept sabotierend, sitze ich kurz darauf mit meiner Büchse und Christian auf einer beschaulich verwaisten Kanalbrücke. Endlich haben wir die Ruhe, den Sunshine in unsere Hearts zu lassen. Hat es dafür wirklich die Love Parade gebraucht?

Nein, diesmal nicht. Ich rufe hiermit meinen engeren Freundeskreis auf zur familiären Escape-Parade. Egal wohin, nur weg von Berlin, weg vom Telefon. Zur Nachahmung empfohlen. Ich geh' dann schon mal vor. Tschüß.