■ Die Debatte, was Nachmittagstalkshows dürfen, verhandelt das richtige Thema am falschen Gegenstand: Wo ist unsere Schamgrenze?
: No sex, please!

Na also, es hat geklappt: Nachmittags reden wir nicht mehr über Sex. Das Thema hat Arabella Kiesbauer aus ihrer Talkshow gestrichen, nachdem die Medienanstalten drohten, ihre Sendung ins Abendprogramm zu verbannen. Eine Allianz von Sittenwächtern und Wahlkämpfern aus Bayern hatte die Debatte entfacht: No sex, please! Oder jedenfalls nur nach acht. Gut, daß wir darüber geredet haben. Schade nur, daß es das falsche Thema war.

Es geht nämlich nicht um Sex. Auch nicht um Jugendschutz, auf den sich alle eilig berufen. Und das Problem, wenn es denn eins gibt, ist nicht allein das Problem der Daily Talks. Die Diskussion darauf zu begrenzen, ist Blödsinn.

Gestritten werden müßte um Intimität, genauer: um deren Grenzen. Denn die werden ständig verletzt, im TV, auch und gerade in den angeblich seriösesten Sendungen der Welt: in den Nachrichten. Da wird ein Vater, der gerade erfahren hat, daß seine Tochter beim Fährunglück der Estonia umgekommen ist, von einem Fernsehreporter interessiert gefragt: „Was fühlen Sie jetzt?“ Kameras halten auf die gequälten Gesichter schwerverletzter Menschen, behindern womöglich deren Abtransport; sie zeigen verzweifelte Kriegsopfer; sie transportieren das Entsetzen von Menschen, die vergeblich versuchen, ihre Gesichter zu verbergen. Alle Sender, auch die öffentlich-rechtlichen, kaufen diese Beiträge, die Hemmschwellen fallen rapide. Erzähle keiner, solche Bilder seien nur der Informationspflicht geschuldet. Es geht um Voyeurismus, es geht um Einschaltquoten, die hinter der Rechtfertigung, daß diese Ereignisse doch die Welt bewegen, nur mühsam versteckt sind.

Scham schützt unser Innenleben vor unkontrollierter Betrachtung, bewahrt unsere Intimität. Opfer eines Unglücks, deren unmittelbare emotionale Reaktion aller Welt gezeigt wird, genießen diesen Schutz nicht mehr. Den Zuschauern dienen sie zur Beruhigung eigener Ängste. „Schaulust“, schreibt der Psychoanalytiker Micha Hilgers, „befriedigt das Kontrollbedürfnis eigener Angst: es traf jene, nicht mich; ich empfände, was jene jetzt fühlen.“ So werden Opfer ein zweites Mal Objekt.

Gegen das heimlich schlechte Gewissen hilft ein Sündenbock. Und der ist mit den Talkshows billig zu haben. Ein Feigenblatt, das die Debatte um Medienethik und Intimität aufs Kleinformat reduzieren hilft. So was entlastet.

Dabei sind die meisten dieser Quasselrunden vergleichsweise harmlos. Denn sie zeigen Menschen in der Regel nicht in der akuten Situation, in der direkten Emotion, sondern reden im nachhinein darüber. Die Gäste können besser kontrollieren, was sie preisgeben wollen. Nur die Confro-Talks, die allmählich aus den USA herüberschwappen, versuchen Affekte akut zu beleben, direkte Emotionen zu zeigen, Streits zu inszenieren – aber auch das muß nicht gleich den Untergang des Abendlandes bedeuten.

Natürlich gibt es gruselige Talks. Runden, in denen über Vergewaltigung oder Todesstrafe geredet wird, als seien das nette Häppchen für Plappermäulchen, gewürzt mit einer kleinen Dosis Betroffenheit. Sendungen, in denen Gäste in die Enge getrieben werden oder in denen jugendliche Kriminelle sich mit ihren Taten brüsten (und anschließend gibt die Moderatorin den zuschauenden Halbstarken zu bedenken, daß man so was vielleicht besser doch nicht tun sollte). Wenn Talks die Menschenwürde verletzen, greift das Verlangen nach Jugendschutz und Gesetzen. Das sind Fälle, in denen die Landesmedienanstalten einschreiten müssen, und sie tun es auch. Zunehmend, denn in letzter Zeit sind manche Beiträge tatsächlich härter geworden.

Aber ein großer Teil des Unbehagens an Sonja, Hans und Ilona speist sich aus anderen Quellen. Geboten werde eine Distinktionsfolie, die einem bestimmten Milieu zur Selbstvergewisserung diene, zur Abgrenzung gegen das Populäre, sagt der Hannoveraner Medienpsychologe Peter Vorderer. Pfui, das Volk will Brot und Spiele. Trash. Man befindet's für hochproblematisch und klopft sich selbst auf die Schulter. Gewiß kann man über Geschmack und Ästhetik der Talks streiten. Aber man sollte keine Gesetze daraus basteln. Verschiedene Milieus und Generationen haben auch unterschiedliche Vorstellungen vom Privaten. Volkskultur, sagt Vorderer, ist gerne derb und zuviel Emotion und Unterhaltung der Bildungselite stets verdächtig.

Da gleiten die Rufe nach Jugendschutz dann schnell ins Heuchlerische. Wie Talkshows wirken, wissen wir nicht. Bislang sind alle Aussagen Spekulation, empirische Daten gibt es kaum. Die Psychologen Gary Bente und Bettina Fromm, Autoren der einzigen größeren Studie, die bislang vorliegt, halten die Sache für wenig problematisch. Geredet werde hauptsächlich über Beziehungsfragen. Klatsch und Tratsch, wie er auch beim Bäcker oder im Treppenhaus zu hören ist. Nicht fein vielleicht, aber harmlos. Und auch den oft beschworenen Absturz der Gäste in Schamgefühle nach der Talkshow haben Bente und Fromm nicht beobachtet. Mit formalen Vorstellungen, juristischen Mitteln, ist dem Phänomen nur schwer beizukommen.

Nützlich ist die öffentliche Debatte. Denn die Sender lieben ihre Plaudertaschen – als billige Quotenjäger zu den flauen Sendezeiten am Vor- und Nachmittag. Werden sie stigmatisiert, bleiben die Werbekunden weg, die Sache läuft sich tot. Darum waren die privaten Sender auch so schnell bereit einzulenken und werden demnächst einen Verhaltenskodex für die Talks ausbrüten.

Aber das Traurige ist, daß das Thema damit erledigt sein wird. Man hat mal wieder Symptome bekämpft – statt den Zusammenhang zu sehen. Manches an der Kritik an den Talks ist moralinsauer, anderes betrifft Fragen von Menschenwürde und Persönlichkeitsschutz, die nicht auf das Genre zu begrenzen sind. Privates war schon immer Medienthema, aber das Fernsehen, das den Leuten so unmittelbar auf die Pelle rücken kann, macht das Thema brisanter, zumal seit der Kommerzialisierung.

Gibt es Situationen, in denen Kameras sich abwenden müssen? Wo beginnt die Manipulation, wenn Leute beschwatzt werden, Intimes zu offenbaren? Darüber müßte man reden. Aber alle werden sich beruhigt zurücklehnen, wenn Sündenbock Daily Talk durch den Verhaltenskodex in Schranken gewiesen ist. Ein hübscher Erfolg für die Missionare aus Bayern, zumal in Wahlkampfzeiten. Nur eben leider das falsche Thema einer richtigen Debatte. Friederike Herrmann