Nicht von den Menschen abwenden

■ Umland oder nicht?, fragt die taz: LeserInnen debattieren, wie auf Fremdenfeindlichkeit und Überfälle in Brandenburg reagiert werden soll. "Die Gleichung ,Ossis = Faschos, Berliner = die Guten+ ist elitär"

Vor einer Woche haben an dieser Stelle zahlreiche taz- LeserInnen ihre Meinung zu den fremdenfeindlichen Vorgängen geäußert. Heute folgt eine zweite Auswahl von Briefen. Zuschriften können gerichtet werden an: taz-Lokalredaktion, Kochstraße 18, 10969 Berlin, per Fax (251 86 74) oder E-Mail (briefe (klammeraffen!!!taz.de).

Martin Blancke

Das Versagen der politisch Verantwortlichen einer Region, nämlich der Region Berlin-Brandenburg, treibt jetzt seine häßlichen Früchte, die nicht makellos wie Beelitzer Spargel oder Werderaner Äpfel sind. Diese Früchte sind braun und muffig, sie stinken gar, stinken nach Verwesung eines ganzen Staates. Doch halt, wir dürfen sie nicht dem Misthaufen überlassen, wir müssen sie einsammeln, uns mit ihnen beschäftigen und wieder in den Naturkreislauf einführen. Fast so wie Recycling, in Berlin nennt man das „Biogut“. Wir dürfen diese Menschen mit ihrer Region nicht aufgeben, indem wir uns von ihnen abwenden. Wir müssen weiter ins Brandenburgische fahren, wir, das sind Bürger dieser Stadt, politisch Verantwortliche, Medien, Gruppierungen etc. Konfrontation und Diskussion ist gefragt.

Manuela Wegener

Auch wir gehören zu den Berlinern, die seit 1990 mehr oder weniger regelmäßig die frischgewonnene Umgebung erkunden. Dazu benutzen wir die S-Bahn oder auch unser Auto mit Berliner Nummernschild.

Wir sind als klassische kleinbürgerliche Familie unterwegs: Mama, Papa, Oma, Kind. Wir gehen spazieren, gucken uns Schlösser, Klöster, Schiffshebewerke an, rudern, baden, gehen essen, was mensch eben so macht. Wir hatten dabei noch NIE negative Erlebnisse irgendwelcher Art. Allerdings erwarten wir auch nicht unbedingt, daß die Brandenburger freundlicher zu uns sein müssen als der normale Berliner BVG-Busfahrer: Auch unserer Tochter ist auf der Klassenfahrt nach Wandlitz mit ihrer Moabiter Grundschulklasse (hoher Ausländeranteil) nix passiert. Und wir weigern uns zu glauben, daß wir einfach immer Glück haben. Deshalb werden wir nicht nur unsere Ausflüge fortsetzen, sondern uns im Urlaub sogar nach Mecklenburg-Vorpommern trauen. Und das möchte ich auch allen anderen weiterhin raten. Denn nur wenn Berliner und MitbürgerInnen nichtdeutscher Herkunft sich ständig im Umland aufhalten, wird ihre Anwesenheit zur Normalität.

Tim Koehler

Eure Kampagne ist ungewollt (?) ein interessantes Experiment. Es zeigt, daß auch in linksliberalen Kreisen ähnliche Muster von Ängsten herrschen, wie sie derzeit von unserem gewaltbereiten rechtsradikalen Innensenator oder Bundesinnenminister ausgenutzt werden.

Versteht mich nicht falsch: Das Problem rechter Gewalt ist ernst und real existierend. Die alltäglichen Erfahrungen von „Farbigen“, die Ihr u.a. dokumentiert, zeigen das eindrücklich.

Doch mit der Gleichung Eurer Kampagne „Ostdeutschland = Faschos, Berlin = wir, die Guten“ erzeugt Ihr eine neue elitäre Gruppenabgrenzung, die erstens so nicht stimmt und zweitens auch gar nicht hilft. Das Problem ist zu ernst, als daß Ihr in die gleiche Kerbe hauen dürft, wie es derzeit der überwiegende Teil der bürgerlichen Medien frohlockend tut.

Der Brief von Gabriele Manzke (5.6.98) zeigt deutlich, wie unwissend und dumpf der Umgang mit „Ostdeutschland“, der existierenden rechten Bedrohung auch auf der linksliberalen Seite sein kann. Mit platten Boykottaufrufen, wie sie Manzke vorschlägt, werden wir uns einen Bärendienst erweisen und das vollenden, was Kohl und Schröder noch nicht geschafft haben: die Deindustrialisierung der Region zum einen und Perspektivlosigkeit, Neid und Angst vor Deklassierung zum anderen, die wiederum Gruppendenken, regionalen oder sozialen Chauvinismus und letztendlich rechte Gewalt hervorrufen.

Gegen national befreite Zonen, eine generationsübergreifende rechte Bewegung, gegen den alltäglichen Rassismus an EU-Ostgrenze oder in der U-Bahn hilft nur ein Ernstnehmen der sozialen Probleme aller, eine Umwälzung der politischen Entscheidungsprozesse und Präsenz einer pluralistischen Kultur.

Beate Schreiber

Ja, ja, die Westberliner! Da haben die sich nun vor 20 Jahren aus ihren Provinznestern aufgemacht in das aufmüpfige, schräge Westberlin; sie flohen vor den grießgrämigen, materialistischen und spießigen Dorfbewohnern oder Kleinstädtern. Sie flüchteten vor den nicht ordentlich entnazifizierten Biedermännern und nun? Jetzt haben sie den Schlamassel im „Umland“. Schon dieses Wort „Umland“ hört sich an, als sei es lediglich nur Land, keine Städte, keine Zivilisation, die pure Barberei und dazu noch braun.

Am Rande möchte ich erwähnen, daß ich in meiner ehemals ostigen Familie bei jeder Feier auch gegen rechte Sprüche kämpfe, aber meist mit Erfolg. Wenn Frau Manzke so detailliert über die Klein-Machnower Idioten schreibt, könnte ich auch Beispiele für die idiotische Westlerseite bringen.

Den lieben Westberlinern möchte ich zurufen: Fahrt ins Umland, laßt Euch nicht einschüchtern, aber laßt Euch auf den Osten ein! Ich möchte nicht, daß die Leute sagen, wenn ein 14jähriger Brandenburger einen farbigen Jungen anpöbelt: „Der arme Ossi, hat ja nichts anderes gelernt in der DDR!“ Ich bitte Euch, der war damals noch viel zu klein. Diese Pöbler und Schlägertypen haben das im wiedervereinigten Deutschland gelernt, und damit haben auch die Westberliner Verantwortung zu übernehmen!

Wir können nicht Sozialpädagogik studieren und damit meinen, die Gutmenschen zu sein. Und die anderen brauchen eine Therapie, und dann geht das schon. Manchmal hat man auch den falschen Therapeuten. Ich denke, daß alle Projekte, zum Beispiel das Ökodorf Brodowin, die die Wessis von den Ossis und anders herum abhängig machen und eine Zusammenarbeit und ordentliche Kommunikation erfordern, ein Schritt in die richtige Richtung sind.

Christian Wiesner-Stippel:

Vor Fahrten ins Umland beginne ich erst mal mit der Aktualisierung meiner Brandenburg-Landkarte. Ich nehme die gesammelten Erkenntnisse der letzten Tage und Wochen und trage sie ein. Markiert sind schon sämtliche mir bekannten „national befreiten Zonen“. Danach überprüfe ich, ob weitere Zentren rechter Gewalt hinzugekommen sind. Auch Örtlichkeiten wie Dolgenbrodt und Gollwitz sind hervorgehoben. Dort wie auch anderswo haben (bekanntlich) Lichterketten keinen Einfluß gehabt.

Der nächste Schritt geht zum Spiegel. Seh' ich wirklich aus wie ein Deutscher? Mein fälschungssicherer Paß weist mich als Deutschen von Geburt an aus, aber reicht das im Notfall? Frisur, Kleidung ... muß ich was an mir ändern? Wie das Problem lösen, nicht als Deutscher aus Berlin erkannt zu werden ... besonders bei Ausweiskontrollen vor Betreten national befreiter Zonen? Muß ich notfalls unser Stammbuch bereithalten?

Sollten Schulklassen auch weiterhin Fahrten ins Umland planen, Unterstützung vom Senat anfordern. Eltern können sich z.B. von der Arbeitsstelle bzw. Arbeits- oder Sozialamt als Begleitung der mitreisenden Lehrer freistellen lassen. Lohn- und Gehaltsausfälle werden vom Innensenat übernommen. Sponsoring über IHK und Arbeitgeberverbände erfragen. Die Schulkinder müssen bei der Planung der Klassenreise darauf vorbereitet werden, daß die Eltern vor Ort zur Betreuung der Einheimischen abgestellt werden.

Zusätzlich bietet der Senat einen besonderen Service für obere Gymnasialstufen. Es können bei rechtzeitiger Beantragung (zwei Wochen vor Reiseantritt) aus der seit der letzten Senatsbildung sprunghaft gestiegenen Zahl von Regierungsdirektoren Begleitpersonen geordert werden. Das Senatsprogramm „Verantwortlich begleiten, integrativ wirken, sinnlich erfahren ... der Schreibtisch bleibt unbenutzt“ hat anerkennende Worte und den offiziellen Segen aus Brüssel erhalten.

Kai Lilie:

Ich wurde selbst an einem Freitag gegen 12 Uhr mittags dreimal innerhalb von einer Stunde in der Stadt Brandenburg angepöbelt. Bin männlich, 39, lange Haare. Die gegen mich gerichtete Anmache lautete in etwa, daß man bei Adolf Leute wie mich vergast hätte. Diese Aggressionen gingen übrigens nicht von Skins aus (die hätten vielleicht gleich zugeschlagen), sondern von sogenannten Stinos: Männer, Schlips, ca. 40–45 Jahre alt, Typ Punkt 12 Uhr Eisbein und Bier Ballermann 6.

Ich meide das Umland. Politisch wäre es meines Erachtens korrekter, jetzt erst recht zu fahren. Aber da ist ehrlich doch ein Angstgefühl.

Mir stellt sich schon die Frage, ob ich mich als ehemaliger Westberliner jetzt nicht gefangener fühle als zu Zeiten der Mauer. Damals mußte ein Visum beantragt werden, 25 Mark bezahlt, und los ging die Tour. Angst vor Kriminalität hatte ich damals nicht.

Richard Rother:

Vorweg: Ich selbst komme aus Brandenburg und lebe seit fast zehn Jahren in Berlin. Den Brandenburgern, die ihren dumpfen Fremdenhaß nun seit Jahren ausleben dürfen, muß einmal deutlich gesagt werden: Sie profitieren in gehöriger Weise von der wirtschaftlichen Kraft der Hauptstadt. Mehr als hunderttausend Berufspendler fahren täglich nach Berlin, wo sie den Westberliner Nichtdeutschen die Arbeitsplätze weggenommen haben, die Kommunen im Umland profitieren vom Zuzug wohlhabender Berliner und der Produktionsverlagerung auf die grüne Wiese.

Dies alles sind die rationalen Argumente im real existierenden Kapitalismus, mit denen man dem widerlichen Gequatsche von jobkillenden Ausländern begegnen kann. Sollten die Brandenburger auf ihren gewalttätigen Vorurteilen beharren, muß wohl ein wirksamer Selbstschutz der Betroffenen organisiert werden.

Der beste Selbstschutz für Linke aus Berlin aber ist nicht, bewaffnet baden zu fahren – obwohl das nötig sein kann –, sondern eine kontinuierliche Unterstützung von linken und alternativen Jugendlichen in der Region. Denn bei allen Naziskandalen muß man erwähnen – es gibt überall Menschen, die keinen Bock auf Nazis haben. Diese brauchen jede erdenkliche Unterstützung – materiell, moralisch, psychisch. Denn sie, mögen es noch so wenige sein, sind die einzigen, die langfristig der kulturellen Hegemonie der Rechten etwas entgegensetzen können. Also: Berliner und Berlinerinnen, aufs Land – zu jeder Jahreszeit!

Tom de Meller: Falls Ihr es noch nicht bemerkt habt: Mit Eurer Strategie, die der Bild würdig und ihr homolog ist, spielt ihr nur eine platte instrumentalisierende Rolle im langanhaltenden Volksstück Städter vs. – inzwischen landlose – Bauern. Wenn Ihr so weitermacht, werden die mit Euren hochgeschriebenen Erwartungen erst wirklich unangenehm werden. Mädels, Jungs, verlegt Euch auf ein anderes Thema, oder geht mit diesem differenzierter um.