■ Die ICE-Katastrophe dementierte nicht nur die Illusion technischer Machbarkeit, sondern auch einen Traum von unversehrten Körpern
: Entgleistes Wunschdenken

Der Bahnhof in Hamburg-Altona ist ein Sackbahnhof. Hier beginnt und endet die Fahrt der ICE- Züge der Strecke Hamburg–München. Hier werden sie eine Weile vor ihrer Abfahrt schon bereitgestellt, dadurch kann ihr Anblick etwas länger studiert werden als beim sekundenschnellen Vorüberrauschen auf freier Strecke.

Ihre Gestalt weist, mehr als bei anderen Zugmodellen, etwas Geschlossenes und Einheitliches auf, wodurch das Bild entstehen kann, es handle sich hier nicht um aneinandergehängte Waggons plus Lok, sondern um einen einzigen intakten Zugkörper. Wie geschmeidige, schlangenhafte Wesen, wie ruhende Schönheiten liegen diese Züge im Bett der eigens für sie angelegten Trassen. Weiß, glatt und stromlinienförmig.

Die spiegelnden, uneinsehbaren Fenster lassen Blicke nicht hinein-, wohl aber herausgelangen. Das ruft den Eindruck der Unangreifbarkeit hervor. Mit seiner spitz zulaufenden Schnauze voran wird der Zug innerhalb weniger Stunden Strecken entlanggleiten, für die früher Tagesreisen notwendig waren. Daneben nehmen sich all die anderen Züge wie plumpe, unbeholfene, vorsintflutliche Behelfsmodelle aus. Dieses lichte und schlanke Fortbewegungsmittel scheint genau das zu sein, worauf die Technik in ihrem unaufhaltsamen und zielstrebigen Fortschritt zugesteuert ist – eine Vervollkommnung.

Hell und leicht wird der Zug durch wechselnde Landschaften rauschen; unbehelligt von äußeren Einflüssen wie Jahreszeit und Witterung werden die Reisenden im Inneren bei Höchstgeschwindigkeit in klimatisierten Abteilen an der Perfektionierung der erdgebundenen Fortbewegung teilhaben. Der ICE ist zwar auch ein Mittel, um die Strecke von A nach B zurückzulegen, aber er ist noch mehr als das: die Verkörperung eines Lebensgefühls. In Zeiten, in denen Begriffe wie Effizienz und Leistungsoptimierung den Zeitgeist kennzeichnen, entspricht dieses Zugmodell dem „Maß der Dinge“ in unserer Gesellschaft. Das gilt sowohl für seine Rekordgeschwindigkeit als auch für seine Ästhetik.

Das ICE-Unglück von Eschede war ein Schock quer durch alle Bevölkerungsschichten. Natürlich gibt es auf der Hand liegende Erklärungen dafür: der Tod von fast 100 Menschen, die buchstäblich von einer Sekunde auf die nächste aus dem Leben herauskatapultiert worden sind, ist furchtbar. Und die Tatsache, daß es ebensogut andere Menschen hätte treffen können, die kurz vorher oder nachher auf dieser Strecke mit dem ICE gefahren sind, also potentiell jede/n, der oder die schon mal mit so einem Zug gefahren ist, läßt dieses Unglück näher rücken als eines, das sich irgendwo auf der Welt ereignet. Aber es gibt noch etwas anderes, das die Berichterstattung und die Kommentare über dieses Zugunglück wie ein roter Faden durchzieht und das hellhörig werden läßt. Es ist die Fassungslosigkeit, daß es ausgerechnet ein ICE war, der da entgleist ist, ohne daß es direkt auf ein „menschliches Versagen“ zurückzuführen wäre. Formelhaft und beschwörend wurde die Frage wiederholt, wie das passieren konnte. Es hätte also nicht passieren dürfen. Nicht bei einem ICE.

Im Fernsehen wurden immer wieder die Bilder des ineinandergeschobenen Zugwracks und der Wrackteile gezeigt, die ausgefranst und zerfetzt wie die Reste eines riesigen Tierkadavers von Krähnen angehoben wurden, und zugleich die Bilder von den Bahren mit weißen Tüchern, unter denen sich sonderbar klumpige Formen abzeichnen. Zwei Tage nach der Katastrophe war es noch nicht gelungen, irgendwelche Leichen zu identifizieren. Es scheint eine Entsprechung zu geben: In dem zertrümmerten Corpus des Zuges liegen die zerschmetterten Körper der Reisenden begraben.

So mag der Schock, den das Unglück von Eschede auslöste, dadurch verstärkt worden sein, daß das Äußere der ICE-Züge dem Ideal des makellosen Körpers entspricht – einem Ideal, das uns alltäglich vorgeführt wird. Überall begegnen sie uns, die schlanken, glatthäutigen und immer jungen Körper, vermitteln neben der Anpreisung eines Produkts zugleich eine Idee von einer idealen Art zu sein. Jung, schön, dynamisch und leistungsbereit. Während alles „schlank“ wird, von den Unternehmen bis hin zum Staat, haben sich auch die Körper der Menschen zu disziplinieren. Mit Hilfe von Diäten und Wellness-Programmen, durch die unaufhörliche „Arbeit“ am Körper wird dieser dem angenähert, was er sein soll: die augenscheinliche Hülle, nein, weitergehend als das, der Ausdruck des flexibel-mobilen, anpassungs- und hochleistungsfähigen Individuums. An eben solche „zeitgemäßen“ Individuen richtet sich das Angebot des ICE. Er soll für die immer Eiligen, diejenigen mit der Zeit-ist-Geld-Mentalität, ein attraktives Angebot darstellen, um reibungslos von Geschäftstermin zu Geschäftstermin, von Standort zu Standort zu gelangen. Die Bahn will wieder eine Alternative zu den Inlandsflügen bieten. Mit dem ICE wurde die Möglichkeit, sich optimal von einem Ort zum anderen zu bewegen, wieder vom Himmel auf die Erde geholt.

Der weiße, glatte Leib des ICE kann durch Türen betreten werden, die mehr mit Flugzeugen denn mit herkömmlichen Zügen gemein haben. Wenn diese schweren Türen sich mit hermetisch-dumpfem Abriegelungsgeräusch geschlossen haben und man in den vollklimatisierten Abteilen auf Sitzen Platz genommen hat, die dem Flugzeugdesign abgeschaut wurden, entsteht die Vorstellung, abzuheben statt loszufahren. So soll es wohl auch sein. Den Reisenden wird die Phantasie nahegelegt, teilzuhaben an der Hochgeschwindigkeitsbewegung, Teil von ihr zu werden. Wichtig an diesem ganzen Drum/ Drin und Dran des ICE ist jedoch auch das Gefühl der Sicherheit und des Geschütztseins, das sich einstellt.

Der ICE ist der makellose, perfekt und reibungslos funktionierende Hochleistungskörper. Sich in ihm fortzubewegen heißt, Teil dieser Makellosigkeit zu sein. Wer einsteigt und mitfährt, darf teilhaben am Phantasma der grenzenlosen Beschleunigung, Steigerung, Machbarkeit. Und natürlich an der Illusion der vollständigen Kontrollierbarkeit. Aber jetzt ist solch ein Zug entgleist. In dem völlig zerstörten Wrack und unter Betonmassen begraben starben nicht nur viele Menschen, sondern auch dieses Phantasma des perfekt beherrschbaren, seine Leistung grenzenlos steigernden Körpers trug eine schwere Wunde davon. Von ihr bleibt abzuwarten, ob sie als Symptom wahrgenommen und verstanden wird. Claudia Lenz