Die Festivalisierung der Innenstadt

Die Spandauer Vorstadt hat sich vom verschlafenen Kiez zur Szenegegend gewandelt. Wo noch vor wenigen Jahren alternative Lebensformen blühten, wird heute die Symbiose von Kunst und Kommerz gefeiert  ■ Von Ole Schulz

Frühjahr 1990. S-Bahnhof Hackescher Markt. Es war ein trockener, sonniger Tag, als ich zum ersten Mal in die Gegend zwischen Rosa-Luxemburg-Platz und Friedrichstraße kam. Damals gab es hier kaum Geschäfte und Grün, einige Omis lugten aus verwitterten Fenstern, an den maroden Fassaden flatterten Demo-Aufrufe im Wind, und auf den Straßen waren noch weniger Trabis als Menschen zu sehen. Dafür gab es aber viele steinerne Träume zu entdecken: abbröckelnde Fassaden, Granatlöcher und Schriftzüge aus vergangenen Tagen. Gemeinsam mit streunenden Katzen durchstöberte ich leerstehende Mietshäuser und verwunschene Gewerbegelände. Überall war es wohltuend ruhig, ein Viertel wie im Dornröschenschlaf.

Niemand hatte mir dieses alte Berlin jenseits sozialistischer Prachtstraßen und Aufbau-Architektur jemals gezeigt, das sich von der Volksbühne im Osten über die Oranienburger Straße, wo schon in den 20er Jahren neben der Synagoge die Huren standen, bis zum 1990 besetzten Kunsthaus Tacheles an der Friedrichstraße hinzieht. Als Westberliner Mauerkind wußte ich nichts von der Spandauer Vorstadt, jenem Kiez unweit der Museumsinsel, dessen seit 1800 entstandene, enge Straßenfluchten von niedrigen Stadthäusern und protzigen Gewerbehöfen aus der Gründerzeit gesäumt werden; ein reizvolles Viertel, in dem man buchstäblich über die Spuren der wechselvollen deutschen Geschichte stolpert und dessen Abriß mutige Bewohner erst kurz vor dem Mauerfall verhindert haben.

Wie viele junge Menschen zog es mich nach dem Fall der Mauer hierher in den wilden Osten. Jeder zweite Anwohner kam erst ab 1991 in die Gegend. Es lockten die billigen Mieten und all die Nischen, die mit den Wirren des Umbruchs entstanden waren. Es war eine Zeit, in der fast jeder, der wollte, einen Platz finden konnte.

Denn die Wohnungsbaugesellschaft Mitte vergab großzügig Mietverträge für Gewerberäume – wenn auch nur solange, bis die Eigentumsverhältnisse geklärt waren. Einige besetzten Häuser, andere schweißten Kunstwerke aus Metallschrott für den Skulpturenpark hinterm Tacheles, Maler fanden großartige Ateliers für wenig Geld und null Komfort, rhetorisch Begabte wurden Kulturmanager, Musiker entdeckten irgendwo Räumlichkeiten, in denen sie endlich Krach machen konnten, und Plattenfetischisten eröffneten Clubs in dunklen Kellerlöchern.

Und so entstand eine vielfältige kulturelle Szene. Noch heute befindet sich in dem kleinen Viertel mehr als ein Drittel der rund 1.000 kulturellen Einrichtungen im Bezirk Mitte. Viele hielten sich mit Geldern über Wasser, die der „Beirat für dezentrale Kulturarbeit“ bis heute an Projekte freier Kulturgruppen vergibt – 170.000 Mark im Jahr.

Doch die Umbruchsjahre sind vorbei, der Baulärm auf dem Zenit und die Zeiten für viele härter geworden. Die meisten Häuser in der Gegend sind „rückübertragen“ und inzwischen saniert, die Mieten kräftig gestiegen und die Baulücken, die der Krieg hinterlassen hat, mit adretten Neubauten „geschlossen“ worden.

Am Hackeschen Markt sind die Veränderungen nicht zu übersehen: Vor zwei Jahren wurden die 1906/07 erbauten Hackeschen Höfe wiedereröffnet, mit acht Höfen Berlins größtes Gewerbehofareal. Jetzt strahlen die farbigen Klinker der Jugendstilfassade in neuem Glanz, und auf dem schnieken Gelände wird eine – als Symbiose von Kultur und Kommerz gepriesene – Neuberliner Mischung aus Bars, Boutiquen, Feinkostläden, Theatern, Kinos, alteingesessenen Mietern und Handwerksbetrieben exemplarisch vorgelebt. Außer Frage steht, daß die Höfe die Gegend für ein kauffreudiges und kulturinteressiertes Publikum salonfähig gemacht haben.

So wurde aus dem einstigen Cityrandgebiet eine Art Amüsierviertel, das an den Wochenenden von flanierenden Bildungsbürgern, neugierigen Touristen und Nachtschwärmern überrannt wird. Auf fast jeden der 7.000 Anwohner kommt heute ein Kneipenplatz. Im neuen Merian-Berlin-Heft heißt es beschwörend: „Rings um die Hackeschen Höfe entsteht das zukünftige Zentrum Berlins.“ Auf der anderen Straßenseite sind die Neuen Hackeschen Höfe, ein Ensemble aus zwölf Neubauten, im Rohbau nahezu fertig, die Rosenthaler Höfe, ein Stück die Straße hoch, folgen bald.

Ein Teil der Kulturszene konnte sich etablieren. Mit der aufsehenerregenden Ausstellung „37 Räume“ in abbruchreifen Wohnungen und Ladenlokalen war 1992 das Viertel für den Kunstbetrieb erschlossen worden. Nach und nach zogen mehr und mehr renommierte Galerien in der Auguststraße und Umgebung. Neunmal im Jahr luden die ansässigen Galerien seitdem zu einem – meist völlig überfüllten – Vernissagen- Rundgang. Kritiker sprechen schon von der „Festivalisierung der Innenstadt“, die die Unterschiede und Widersprüche zwischen Ost und West verwische. In einer ehemaligen Margarinefabrik werden die „Kunstwerke“ im Herbst eine richtige Biennale veranstalten – unterstützt mit öffentlichen Geldern in Millionenhöhe.

Viele andere Einrichtungen, vor allem solche nichtkommerzieller Natur, sind dagegen in ihrer Existenz bedroht. Nicht nur das über die Stadtgrenzen bekannte Tacheles steht kurz vor dem Aus. Auch die in einem baufälligen Gewerbehof untergekommen Künstlergemeinschaft „Apparat“ mußte ihre spartanischen Ateliers Ende März räumen. Seitdem suchen 40 Künstler verzweifelt nach einem bezahlbaren Ausweichobjekt. Immer mehr Altmieter, Kulturschaffende und kleine Gewerbetreibende können sich die hohen Mieten, die nach der Sanierung fällig werden, nicht mehr leisten und werden verdrängt. Verfügten 1992 nur fünf Prozent der Haushalte über ein Einkommen von 4.000 Mark aufwärts, sind es heute bereits über ein Drittel.

Die Spandauer Vorstadt hat ihren eigentümlichen Charme nicht ganz verloren, und es lohnt sich noch, einen Blick hinter die Fassade weißgetünchter Hausfronten zu werfen. Es gebe für sie nicht Schöneres, erzählt mir eine Nachbarin, als an einem Sonntagvormittag, wenn der Kiez sich noch von der Nacht erholt, durch die leergefegten Straßen zu spazieren.