Streit um das Erbe von Matoub Lounes

Über zehntausend Menschen beteiligen sich aus Protest gegen das Sprachgesetz an der ersten genehmigten Demonstration der algerischen Sozialisten seit 1992. Doch die Opposition ist sich uneins  ■ Aus Algier Reiner Wandler

„Seit der Unabhängigkeit 1962 immer das gleiche Spiel. Die erkennen uns Berber einfach nicht an!“ ruft der grauhaarige Alte einer Gruppe von ausländischen Journalisten zu. Zusammen mit über zehntausend Menschen ist er dem Aufruf der Front der Sozialistischen Kräfte (FFS) des algerischen Exilpolitikers und Bürgerkriegsveteranen Hocine Ait Ahmed gefolgt und gestern zum Platz des 1. Mai in Algier gekommen.

„Pouvoir assassin“ – Mördermacht – ruft die Menge. Viele von ihnen tragen die algerische Nationalfahne und Fotos des am 25. Juni ermordeten Sängers Matoub Lounes, der wie kein anderer für die Berbersprache Tamazight eingetreten ist. Auf Transparenten und in Sprechchören fordern die Demonstranten, von denen viele aus der Berberregion Kabylei angereist sind, die Anerkennung des Tamazight als offizielle Sprache und ein Stopp der erst letzten Sonntag in Kraft getretenen vollständigen Arabisierung Algeriens.

Diesmal hatte die FFS überraschend eine Genehmigung für die Demonstration erhalten. „Der Marsch gegen den sozialen und kulturellen Ausschluß und für den Frieden“ war somit die erste genehmigte Demonstration der größten nichtreligiösen Oppositionspartei seit der Verhängung des Ausnahmezustandes 1992.

Nur wenige Meter von der Demonstrationsroute entfernt, in der Rue Didouche Mourad, der Einkaufsstraße Algiers, versammelten sich breits eine Stunde vor dem Marsch der FFS mehrere hundert Anhänger der Versammlung für Kultur und Demokratie (RCD) vor ihrer Parteizentrale. „Stoppt das doppelte Spiel. Stoppt den Verrat“ lautete das Motto, mit dem die RCD, die sich ebenso wie die FFS hauptsächlich aus Berbern rekrutiert, in allen großen Städten der Kabylei parallel zur Demonstration der FFS zu Kundgebungen gerufen hatte.

Ein Treffen des FFS-Generalsekretärs Ahmed Djeddai mit Staatspräsident Liamine Zéroual am vergangenen Montag, das die meisten algerischen Tageszeitungen als „verantwortungsbewußten Akt“ feierten, gilt den Anhängern der RCD als Ausverkauf des Berbertums. „Fünf Jugendliche wurden bei den Unruhen nach dem Tod von Matoub Lounes von der Polizei erschossen, wie kann Djeddai da dem Präsidenten die Hand geben?“ fragt ein empörter RCDler.

Doch die Kritik an der Konkurrenzpartei geht tiefer: „Die FFS ist Komplize der Islamisten!“ wettert Mohcine Bellabas, Mitglied im RCD-Vorstand. Schuld daran sei die Forderung der FFS nach einem „nationalen Dialog mit allen Kräften, die der Gewalt abgeschworen haben“. Für die RCD sind auch die gemäßigten Islamisten nichts weiter als Faschisten. Statt Verhandlungen setzt die RCD auf einen militärischen Sieg über die Islamismus. Seit 1994 organisiert die Partei in der Kabylei bewaffnete Selbstverteidigungsgruppen, die sogenannten Patrioten.

Ein Teil der „Patrioten“ könnte jetzt der Kontrolle der Parteiführung entglitten zu sein. Darauf deutet ein „Kommuniqué Nummer 1“ hin, in dem eine bisher unbekannte Bewaffnete Berberbewegung (MAB) „den Schwur ablegt, all diejenigen zu bekämpfen“, die „direkt oder indirekt“ die Schuld am Tod von Matoub Lounes tragen und „die Arabisierung anwenden oder die Bevölkerung dazu anhalten, sie anzuwenden“. Das Schreiben schließt mit der Drohung: „Unsere Rache wird furchtbar sein.“