Das Herz ersetzt fehlende Kraft

Nach dem ein wenig glücklich herausgespielten 2:1 gegen Kroatien trifft Frankreich am Sonntag auf Brasilien, und die Weltmeisterschaft hat ihr Traumfinale  ■ Aus Paris Christoph Biermann

Staatspräsident Chirac hob die Arme gemessen in die Luft, während die Fans in den Kurven endlich einmal angemessen tobten. Lilian Thuram wurde von Ersatztorhüter Lama auf den Schultern über den Platz getragen. Und während draußen in der Stadt die Menschen bereits damit begannen, unter lautem Hupen durch die Straßen zu sausen, um schließlich einen beeindruckenden mitternächtlichen Verkehrsstau herzustellen, sagte Michel Platini: „Das ist ein großer Sieg für Frankreich, für die ganze Welt.“ Die ganze Welt wird nun nicht gleich so aus dem Häuschen sein, denn das spannende Halbfinale von Paris ließ den Eindruck nicht schwinden, daß mit Brasilien und Holland bereits am Vorabend die beiden besten Mannschaften der WM gespielt hatten. Aber zumindest bekommt die Welt das Endspiel, das vor dem Beginn des Turniers am häufigsten vorausgesagt wurde.

Aimé Jacquet feierte den Einzug in dieses Finale als einen „mit dem Herzen errungenen Sieg“. Dabei schaute der französische Nationaltrainer jedoch ungefähr so euphorisiert, als hätte er am 13. Spieltag der Bundesliga in Duisburg ein Unentschieden geholt. Den zu unerschütterlicher Nüchternheit neigenden Jacquet hat der nationale Überschwang um ihn herum kaum über die offensichtlichen Schwächen seiner Mannschaft im Spiel gegen Kroatien hinweggetäuscht. Im Verlauf der ersten Halbzeit gelang es den Kroaten immerhin, das französische Spiel fast gänzlich zu entschleunigen. Hatte sich Jacquet zuletzt Sorgen darüber machen müssen, daß seine Mannschaft ihre Torchancen nicht nutzte, so gab es nun kaum noch welche. Kroatiens Nationaltrainer Blažević hatte vermutlich zu Recht den „Eindruck, daß es Frankreich etwas an Kraft fehlte“. Auf jeden Fall wirkte die Mannschaft zunehmend gehemmt, ratlos und verlor vorübergehend sogar etwas ihre taktische Ordnung. Zum Ende der ersten Halbzeit kontrollierten die Kroaten das Spiel eindeutig.

Und wahrscheinlich wären sie sogar noch zum ganz großen Spielverderber geworden, denn „wir waren doch schon im Finale“, wie Davor Šuker hinterher ungläubig meinte. Doch Zvonimir Boban vergaß für einem Moment jene Coolness, die das kroatische Spiel bis dahin auszeichnete. Leichtfertig wollte er an der eigenen Strafraumgrenze einen kleinen Trick vorführen und verlor prompt den Ball an Thuram. Der traf nach schönem Doppelpaß mit Djorkaeff ins Tor. Dieses Maleur passierte nun auch noch gerade eine Minute nach der Führung der Kroaten, die fast vom Anstoß der zweiten Halbzeit weg das 1:0 durch Šuker erzielt hatten. Die französische Mannschaft war zu einem Leben erweckt, das sie eigentlich schon ausgehaucht zu haben schien. Auch Lilian Thuram, der beim kroatischen 1:0 nicht aufgepaßt und die Abseitsfalle aufgehoben hatte, war mit dem Ausgleich gerettet. Schneller als der französische Verteidiger hat in einem WM- Halbfinale noch niemand einen schweren Fehler korrigiert.

„Wir haben etwas Großartiges verspielt, wir werden lange darum weinen“, sagte Miroslav Blažević und wird dabei neben Boban auch an Robert Jarni gedacht haben. Denn beim entscheidenden Tor bestätigte sich erneut die Voraussage von Frankreichs Mannschaftskapitän Deschamps, daß „individuelles Talent das Spiel entscheiden“ wird. Jarni verlor am eigenen Strafraum einen schon fast sicheren Ball, wieder eroberte ihn Thuram, traf diesmal direkt und hatte sich damit endlich die Überschrift „Lilian ist ein Gigant“ (L'Equipe) redlich verdient.

„Lilian hat uns gerettet“, sagte auch Jacquet, doch Laurent Blanc drohte fünf Minuten später alles zu verspielen. Der Libero schlug im kroatischen Strafraum beim Gerangel vor einem Freistoß in Richtung Slaven Bilić und traf ihn leicht am Hals. Bilić fiel zwar um, „als wäre er von einem TGV angefahren worden“ (Daily Telegraph), berechtigt war der Platzverweis aber trotzdem. Die „persönliche Katastrophe“ (Blanc) wurde für die französische Mannschaft jedoch zu keiner, weil Kroatien anders als gegen Deutschland die Überzahl nicht ruhig ausspielte, sondern in der verbleibenden Viertelstunde hektisch und planlos spielte.

Der Rest war aufopferungsvoller Kampf und ein Sieg, angesichts dessen das sonntägliche Tiefflugverbot über Paris aufgehoben werden sollte – falls es das überhaupt gibt. Am Tag des Halbfinales hat es jedenfalls Glück gebracht, daß zur Mittagsstunde drei Jagdflugzeuge über die Stadt hinwegdonnerten und die Trikolore an den Himmel malten.

Kroatien: Ladić – Stimać – Bilić, Simić – Stanić (90. Prosinecki), Asanović, Soldo, Boban (65. Marić), Jarni – Šuker, Vlaović

Zuschauer: 80.000 (ausverkauft)

Tore: 0:1 Šuker (46.), 1:1 Thuram (47.), 2:1 Thuram (70.)

Rote Karte: Blanc (74.) wegen Tätlichkeit

Frankreich: Barthez – Thuram, Desailly, Blanc, Lizarazu – Deschamps, Petit – Karembeu (31. Henry), Zidane – Djorkaeff (75. Leboeuf), Guivarc'h (69. Trezeguet)