"Von oben kommt nichts mehr"

■ Der Industrie- und Betriebssoziologe Günter Bechtle (57) von der Humboldt-Uni warnt zum Abschluß der taz-Serie "Sind Sie beschäftigt?" davor, sich von der schlechten Arbeitsmarktlage lähmen zu lassen

taz: Wird Arbeit immer mehr durch nicht bezahlte Beschäftigung ersetzt?

Günter Bechtle: Das ist ein Trend, der sich zweifellos verstärkt. Allerdings sind wir noch nicht auf dem Niveau der USA, wo der Kommunitarismus – das Engagement für das Gemeinwesen – weit mehr ausgeprägt ist.

Warum haben dann ehrenamtliche Vereine so wenig Zulauf?

Ja, das ist ambivalent. Das kommt auch bei Ihrer Serie heraus. Auf der einen Seite ist es zweifellos eine Form der sozialen Einbindung und damit auch der sozialen Anerkennung, mithin ein Status, der der Arbeitslosigkeit vorzuziehen ist. Auf der anderen Seite wird aber das, was der einzelne zum Wohl des Gemeinwesens macht, nicht honoriert. Das ist in der Tat widersprüchlich. Es gibt mittlerweile Modelle und Überlegungen, daß man Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe und ABM-Maßnahmen teilweise umlenken könnte, um solche Initiativen zu unterstützen.

Hat so etwas wirklich eine Perspektive?

Ich denke, es muß eine haben (lacht). Wenn sich die traditionellen sozialen Einbindungen im Zuge der Globalisierung auflösen, und das tun sie zweifellos, kann ich mir nur eine Kompensation auf dieser unteren Ebene der Alltagsarbeit für das Gemeinwesen vorstellen. Von oben kommt nichts mehr. Es kann nur die Politik von unten sein, und es muß gelingen, das in eine gesellschaftliche Form zu bringen und nicht als rein individuelle Initiative, die nicht nach außen sichtbar wird.

Dann müssen diese Tätigkeiten aber auch bezahlt werden.

Auf jeden Fall, wobei man bei vielen ehrenamtlichen Dingen meint, das könnte jedermann machen. Man braucht zumindest soziale Kompetenzen.

Welche Aufgaben könnte denn jeder übernehmen?

Ich denke, ohne Qualifikation geht gar nichts. Aber möglicherweise gibt es im ökologischen Bereich Betätigungsfelder wie beispielsweise die Pflege von Grünanlagen. Das könnte jeder ohne besondere Qualifikation machen. Ich selbst bin zum Beispiel neben meiner beruflichen Tätigkeit an der Humboldt-Universität ehrenamtlich in der Familienbetreuung für politische Flüchtlinge tätig. Dafür braucht man zumindest bestimmte Sensibilitäten.

Viele Männer und Frauen in der taz-Serie äußerten das Gefühl, mit Mitte oder Ende vierzig schon zu alt für den Arbeitsmarkt zu sein. Liegt es wirklich am Alter?

Ich glaube, zum großen Teil hat das mit der bisherigen Berufs- oder Lebensbiographie und des Erwerbs von Fähigkeiten zu tun. Es ist nicht das Alter als solches. Ich denke, es ist die Frage, was jemand vorher beruflich oder außerberuflich gelernt hat. Wenn jemand zehn oder fünfzehn Jahre nicht berufstätig war, dann wird das Alter in der Tat ein Kriterium. Aber nur das Alter schlechthin ist es nicht.

In der Serie waren einige jüngere Leute dabei, die sich von den schlechten Aussichten nicht einschüchtern lassen und das machen, wozu sie Lust haben. Jugendlicher Leichtsinn?

Ich war sogar froh, als ich das gelesen habe. Denn was im Moment läuft, das Angebot von staatlich subventionierten Billigjobs, das stelle ich mir nicht als menschenwürdige Arbeit vor. Wenn jemand jetzt noch so viel Rückgrat hat und sagt, ich bin nicht der total verfügbare Mensch, sondern ich will auch noch Spaß im Leben haben, dann finde ich das absolut richtig.

Sie halten an der Humboldt- Universität unter anderem Vorlesungen über Organisations- und Techniksoziologie. Was wird aus all Ihren Studenten werden?

Da bin ich sehr desillusioniert und resignativ. Ich kann nur mit den Achseln zucken. Die Aussichten sind keinesfalls rosig. Man muß realistisch und kritisch bleiben, aber durchaus bereit sein, sich zu engagieren. Man darf sich nicht lähmen lassen, sondern muß sehr nüchtern und desillusioniert bleiben. Interview: Barbara Bollwahn