„Man muß mehr Fußball spielen“

■ Der deutsche Fußballprofi Olaf Thon über die Kunst der ehrlichen Ironie, die Perspektiven von Schalke, Berti Vogts, das Ende deutscher Tugenden und seinen Wunsch nach einer neuen Spielkultur

taz: Herr Thon, sind seit der WM die deutschen Tugenden ad absurdum geführt?

Olaf Thon: Da soll ich jetzt was sagen?

Wenn Sie Lust haben.

Das sind doch alles Redewendungen. Ich glaube, wir haben bei dieser WM einfach nicht zu den Besten gehört. Es gab vier bis acht Mannschaften, die besser waren. Vor allem die vier Halbfinalisten hatten es mehr verdient als Deutschland, weil sie über mehr Konstanz und mehr Klasse verfügt haben.

Was heißt Klasse?

Die hatten sehr gute Einzelspieler, die uns vielleicht gefehlt haben.

Haben die Deutschen keine?

Wir haben sie auch, aber vielleicht nicht in der Klasse, in der ein Ronaldo spielt. Wir haben zwar einen Bierhoff, aber der ist ein anderer Typ. Wir haben zwar eine sehr gute Breite, aber nicht die Topstars, die dann auch international diese Klasse rüberbringen können. Wie Frankreich zum Beispiel.

Wie wirkte sich das auf dem Rasen aus?

Die spielen halt einen anderen Fußball. Wir machten das, was man die deutschen Tugenden nennt. Den Ball nach vorne schlagen, hinterherrennen, kämpfen. Aber das reicht vielleicht nicht.

Sie sollten nach Vogts' Plan vor der Abwehr in der angeblich entscheidenden Zone zumachen, Bälle gewinnen und eigene Angriffe einleiten.

Aber er hat ja vor dem Spiel gegen Jugoslawien gesagt, ich solle hinter der Abwehr spielen. Da kann er nicht von mir verlangen, daß ich vorne noch die Tore schieße.

Damit war der moderne Libero erledigt?

Ja. Weil man mehr auf Defensive geachtet hat, um keine Tore zu bekommen. Vielleicht hätte man von meiner Seite aus auch den Weg nach vorne antreten müssen.

Sie sind hinten geblieben.

Gegen die Anweisungen des Trainers zu operieren ist auch nicht das, was ich mir vorstelle.

Dann mußten Sie raus.

Ja, aber ob das jetzt war, weil ich mich zurücknehmen mußte, um für die Mannschaft zu arbeiten, oder weil in mir nicht mehr drinsteckte oder in der gesamten Mannschaft nicht mehr drinsteckte, müssen andere beurteilen.

Was sagen Sie?

Ich sage: Okay, ich habe nicht überragend gespielt, aber auch nicht so schlecht. Natürlich habe ich nicht verstanden, daß Berti Vogts gerade mich auserwählt hatte. Es war von meiner Seite aus gar kein Handlungsbedarf da.

Der Handlungsbedarf hieß offenbar Matthäus. Vogts hat inzwischen offiziell festgelegt: Thon „durchschnittlich“, Matthäus „sehr gute WM“.

Das ist ja nicht mein Thema. Ich kann da sowieso nichts dagegen machen. Deswegen gehe ich da auch nicht dagegen an.

Sie haben schon einst bei Bayern Libero gespielt, und dann kam Matthäus zurück...

...ich hab' damals verletzungsbedingt ein Jahr pausieren müssen. Deswegen bin ich ja wieder nach Schalke gegangen. Das war 1993, als ich Stammspieler in der Nationalmannschaft war und dann nicht mehr berücksichtig wurde, viereinhalb Jahre nicht mehr. Deswegen hab' ich jetzt auch aufgehört. Ich glaube, wir passen halt nicht zusammen.

Das ist wirklich Ihre Meinung?

Das habe ich ihm auch gesagt. Wir können nicht erfolgreich zusammenarbeiten, wie's aussieht. Unser gemeinsamer Weg Spieler/ Trainer ist beendet, weil ich gesagt habe, ich höre auf.

Matthäus haben Sie für sein Verhalten gelobt.

Ja, er hat sich sehr fair verhalten.

Nichtsdestotrotz hatte er bei der WM die geballte Kreativität der Bild-Zeitung hinter sich, Sie bloß einen einsamen Bild-Journalisten.

Der war für mich da oder das Ruhrgebiet – aber letztlich schreiben die schon alle zusammen.

Die taz hat Vogts immer zugute gehalten, daß er sich nicht von Springer kaufen ließ.

Und? Sind Sie noch immer der Meinung?

Sind Sie anderer?

Man kann ja nicht gegen Windmühlen kämpfen. Das bringt ja gar nichts.

Aber Sie leiden?

Ich habe es nicht verstanden. Wenn er sagt, ich hätte nicht das gebracht, was ich in der Vorbereitung gebracht habe ... na gut, wer hat das gebracht, was er vielleicht mal gebracht hat? Wer hat gut gespielt bei der WM?

Ein Libero, der hinten drin steht, war 1994 schon veraltet. Wenn man international erfolgreich sein will – trotz Libero...

...braucht man einen, der flexibel ist. So stelle ich mir das auch vor. So stellen wir uns das auch bei Schalke vor. Deshalb sind wir in den letzten Jahren auch so erfolgreich gewesen – natürlich nicht nur deswegen, sondern weil wir eine gute Mannschaft sind.

Berauschend ist Schalkes Fußball auch nicht.

Richtig.

Aber?

Effektiv.

Modern?

Wir wollen auch attraktiver spielen, nicht nur wenig Tore bekommen, sondern auch mehr schießen. Wir müssen versuchen, besser zu kontern, was unsere Schwäche ist. Wir müssen vielleicht mutiger sein. Aber die Null muß stehen.

Nervt Sie dieser Spruch nicht langsam?

Nein, der ist schön. Er verkörpert ja auch eine gewisse Kraft und Klasse. Die Gegner, die ins Parkstadion kommen, denken da schon dran, auch die internationalen.

Was erwarten Sie von der Bundesligasaison?

Die wird sehr schwer. Ich erwarte mir, daß wir oben mitspielen. Aber Bayern München hat das Doppelte an Kapital zur Verfügung, Dortmund hat ein Drittel mehr.

Bayern kauft den jeweils Besten für einen Job und denkt sich, es wird dann schon funktionieren.

Das wird es auch. Klasse setzt sich immer durch – jedenfalls auf 34 Spieltage.

Es sieht aus, als hätten Sie persönlich mit dem Schalke-Trainer Huub Stevens noch einen Qualitätssprung gemacht.

Ja. Weil wir ein anderes Training machen. Mehr auf dem Kleinfeld. Das kommt meiner Spielweise entgegen. Man bekommt die Ballsicherheit. Man spürt, wenn ein Gegner im Rücken ist. Ist der jetzt drauf? Dann muß ich den Ball direkt spielen. Ist er nicht drauf, kann ich den Ball annehmen. Das sind die Sachen des Gefühls und der Erfahrung.

Es dreht sich im modernen Fußball darum, noch schneller zu spielen?

Es dreht sich darum, den Raum eng zu machen und da gut zu spielen. Das ist die holländische Schule. Das Training hier ist jetzt mehr auf mich zugeschnitten. Ohne daß Stevens das auf mich zugeschnitten hat. Ja, ich denke, ich bin besser geworden.

Was heißt besser?

Na, besser. Effektiver. Ich mache weniger Fehler, ich habe dieses Gefühl für das Spiel.

Und Sie geilen sich nicht an Ihrer Klasse auf.

Ich versuche, einfach zu spielen. Aber ich habe dennoch Momente, wo ich auch auffällig spiele. Bei mir ist eigentlich alles drin. Ich habe auch immer Höhen und Tiefen, nie die Mitte. Obwohl ich versuche, diesen Mittelweg zu finden und das auch meine Philosophie ist, werde ich ihn nie haben. Ich werde immer oben oder unten sein.

Sie sind glücklich mit dem Fußball, wie Sie ihn jetzt spielen?

Ja, ich hab ja bei Schalke so schöne Dinge zu tun, ich bin viel am Ball.

Sie sind der spielmachende Libero.

Kann man sagen. Es läßt sich irgendeiner fallen, ich bin im Mittelfeld, bleibe auch da, grätsche, kämpfe, spiele lange Pässe, kurze Pässe, Torschüsse, Ecken, Freistöße, alles.

Und schauen nicht nach München, wo alles noch größer ist?

Da war ich ja schon. Ich habe immer gesagt, ich möchte mal zwei Jahre ins Ausland gehen, aber jetzt glaube ich eigentlich nicht mehr, daß ich den Verein noch mal verlassen werde. Wobei das immer sehr schnell gehen kann. Wer hätte gedacht, daß das bei der WM so läuft?

Herr Thon, als Sie in Montpellier rausmußten, haben Sie nicht die Kabinentür eingetreten. Warum eigentlich nicht?

Ich hab' da keine Probleme.

Das soll man glauben? Es ist für jeden Fußballer furchtbar, ausgewechselt zu werden. Und dann zur Halbzeit? Bei der WM?

Ich bin Realist.

1990 warteten Sie darauf, im WM-Finale eingewechselt zu werden. Vergeblich.

Ja. Aber es war zu verstehen. Weil andere Spieler mehr das Recht hatten, zu spielen.

Beckenbauer hat nur einen eingewechselt.

Ja. Den anderen hat er vergessen. Was hätte es gebracht, wenn ich eine Minute gespielt hätte?

Später werden andere genannt, wenn man von den Großen der 90er Jahre reden wird.

Ich habe das Pech gehabt, daß ich verletzungsbedingt immer zurückgeworfen wurde. Aber es gibt wenige Liberos, die mehr als 50 Länderspiele gemacht haben, 52 genau. Und in der Geschichte Deutschlands gab es vielleicht 30 oder 40, die mehr Länderspiele gemacht haben.

Die galten nicht alle als Jahrhunderttalent.

Ach, das sind doch nur Sprüche. Ich bin kein Ronaldo oder Maradona.

Es heißt aber, Sie hätten begriffen, wie moderner Profifußball funktioniert. Wie?

Ja? Wie?

Sie sind der Experte.

Erst mal funktioniert er so, daß man erfolgreich sein muß. Wer Erfolg hat, hat recht. Otto Rehhagel ist Meister, er hat recht. Er wird oft kritisiert, Trainingsmethoden usw., aber er hat Erfolg. Und so sehe ich das auch.

Sie gelten auch außerhalb des Spielfeldes als angenehm professionell.

So war ich eigentlich immer. Mit sehr viel Ironie. Nur kann ich das jetzt ein bißchen besser rüberbringen.

Wozu brauchen Sie die Ironie?

Das ist meine Philosophie des Lebens. Nicht alles so verbissen zu sehen, sondern auch in schweren Situationen locker und entspannt an eine Sache ranzugehen und dennoch mit einer gewissen Ernsthaftigkeit.

Neulich haben Sie den Zwang zum uniformen T-Shirt bei Schalke erwähnt.

Da kam wieder meine Ironie durch.

Das war ironisch?

Tatsache, aber Ironie. Der Trainer saß ja daneben.

Schützen Sie sich mit Ironie?

Weiß ich nicht, ob das ein Schutz ist. Das war ja ehrlich. Ehrlich ironisch. Ich sage: Trainer, lassen Sie das doch mit den T-Shirts. Er weiß aber auch, daß ich es akzeptiere. Gleiche T-Shirts anziehen, mein Gott, na gut. Das habe ich rübergebracht.

Ist das Vollprofitum?

Ja, auch. Deswegen mache ich Spaß. Ich versuche über eine negative Sache erst einmal zu lachen, um sie dann ins Positive zu wenden.

Wenden Sie doch mal das WM- Aus in eine positive Zukunft für den deutschen Fußball.

Man muß ja irgendwo bei Null wieder anfangen. Ich glaube, daß wir versuchen müssen, taktisch dazuzulernen und technisch versierteren Fußball zu spielen. Wir müssen am Ball stärker werden, damit wir den Gegner auch mal ausspielen können. Damit wir nicht mehr nur die Bälle vorne reinhauen, um dann eventuell mal ein Tor zu machen. Das kann auch eine gute Taktik sein, wenn man Kopfballspieler hat wie Bierhoff und Klinsmann. Aber man hat doch gesehen, daß das andere Spiel variabler ist. Und erfolgreicher.

Muß moderner Fußball verschiedene Stile verbinden können?

Nehmen wir die Brasilianer: Die spielen schon brasilianisch. Kurzpaßspiel im Mittfeld, sehr gute Außenverteidiger, Dunga, der die langen Pässe spielte. Das wollten wir eigentlich auch spielen. Ich denke tatsächlich, die Mischung von allem ist es. Deshalb haben mir am besten von allen die Holländer gefallen. Die hatten eigentlich alles: Standen hinten hervorragend mit ihrer Viererkette, waren im Mittelfeld sehr variabel, hatten gute Stürmer. Und dazu gute Spieler, die noch draußen saßen. Die kamen dem Fußball, den ich mir vorstelle, schon sehr nahe.

Hätten Sie gern mal bei Holland mitgespielt?

Das ist doch eine Frage, die nicht relevant ist. Ich werd' auch nie 'ne Frau werden.

Die Brasilianer sind jedenfalls internationaler geworden.

Die haben gesehen, daß man auch deutsche Tugenden braucht; Kampf, Kraft, Kondition. Im Zweikampf Mann gegen Mann muß man stark sein, und wer dann die besten Leute hat, gewinnt.

Heißt das, die Deutschen brauchen auch ein paar brasilianische Tugenden?

Richtig. Man muß mehr Fußball spielen. Interview: Peter Unfried