Immer scheitern, besser scheitern

Was also kann man lernen, um ein selbständiger Mensch zu werden? Den Zweifel und den Optimismus (Ein junger Mann traf Brecht...). Peter Palitzsch, ein Regisseur des politischen Theaters, wird heute 80 Jahre alt. Einen persönlichen Blick auf sein Leben wirft  ■ Christoph Nix

Einmal sind wir über den Hof gegangen, da hat er mir ins Ohr geflüstert: „Du bist naiv, wie kann man nur so schrecklich naiv sein.“ Und bei einer anderen Gelegenheit, als es um die Farbgestaltung des roten Vorhanges auf der Bühne am Berliner Ensemble ging und ich der Meinung war, dieses Rot beiße sich mit den Kostümen, da sagte er: „Na, eben.“ Peter Palitzsch war damals zurückgekehrt an den Ort, an dem alles anfing, von dem er geflüchtet und wo er vorher alles gelernt hatte, was es zu lernen gab, als man Lehrer hatte und man stolz sein konnte, Schüler zu sein. Vielleicht liegt darin auch eine große Tragik, daß die Nachfolgegenerationen keine Schüler mehr duldeten.

Zu den großen Traumata im Leben des Regisseurs Peter Palitzsch gehört die Bombardierung Dresdens, die er als junger Mann erlebt: Das Feuer löscht das Leben aus. Palitzschs Mutter hatte einen Urlaubsschein der Wehrmacht gefälscht, er konnte sich für einige Tage der Front entziehen, und dann der große „Feuer-Tod“ mitten in der Stadt.

Aber wie reagiert man auf traumatische Erlebnisse? Die einen mit Verdrängung und die anderen mit der Mühsal des Durcharbeitens. So als setze hier, schon ganz früh, im Leben Peter Palitzschs eine Grundentscheidung, eine Struktur für das künftige Leben an, entscheidet sich der in Schlesien geborene Werbegraphiker für eine humanitäre Praxis, er wird Mitbegründer des neuen „Roten Kreuzes der sowjetischen Besatzungszone“ und zugleich Dramaturg an der Dresdner Volksbühne, mithin einer, der nach Metaphern, nach Bildern sucht, für das erlebte Grauen und das, was der Menschheit noch bevorzustehen schien. Der Rest hatte sich für etwas anderes entschieden, dem deutschen Volk lag die Verdrängung näher.

Was dann folgt ist Zufall, oder? Ein junger Mann trifft Brecht, und Brecht engagiert den jungen Mann nach Berlin. Dort arbeitet der Mann an Dokumentationen, er entwirft Plakate, und er inszeniert 1955 zum ersten Mal „Der Tag des großen Gelehrten Wu“, eine mit Carl M. Weber verfaßte Bearbeitung eines chinesischen Volksmärchens. Palitzsch wird Brechts Schüler, und kein anderer als Palitzsch ist glaubwürdiger, wenn er über Brechts Freundlichkeit spricht, über seinen Mut und seine Mühe, die er sich mit seinen Schülern machte. Ein integerer Zeuge gegen das Machtbild, gegen den Chauvinisten, gegen das stalinistische Bild von Bertolt Brecht. Palitzsch spricht ohne Erregung gegen Fuegis Brecht-Biographie. Er ist leise, das macht ihn ja so glaubhaft. Was also kann man lernen, um ein selbständiger Mensch zu werden? Den Zweifel und den Optimismus.

Immer versucht, immer

gescheitert.

Einerlei.

Wieder versuchen, wieder

scheitern.

Besser scheitern.

Soweit Beckett, wie Palitzsch ihn mag. Dann stirbt Brecht, und die Schüler müssen ohne den Lehrer inszenieren. Palitzsch in Ulm, am Premierenabend von Brechts „Der Prozeß der Jeanne d'Arc zu Rouen 1431“, im September 1961, gibt angesichts des Mauerbaus seine Entscheidung bekannt, nicht in die DDR zurückzukehren. Da trennen sich die Wege, da wird aus dem Brecht-Schüler Wekwerth der Machtmensch, der Intendant, das ZK-Mitglied, der Monopolist auf die Brecht-Interpretation.

Und Palitzsch. Zieht durch die Welt: Schweden, Norwegen, Dänemark, die Niederlande, die Theater Ulm, Wuppertal, Köln, Stuttgart, Heidelberg, Bremen, Hannover und wird 1966 Schauspieldirektor in Stuttgart. Er macht bundesrepublikanische Theatergeschichte, will sagen, Stuttgart ist Ensemble-Theater in Brechts Sinne, es ist politisches Theater, grenzüberschreitend in den Formen und projektbezogen. Zehnmal in sechs Jahren werden Palitzschs Inszenierungen zum Berliner Theatertreffen eingeladen.

Der Dramaturg Reiner Menniken beschreibt die Arbeitsweise Palitzschs: „Er geht nicht mit Sprengsätzen an ein Stück heran, er versucht sie herauszulesen. Er recherchiert, analysiert, wendet dialektisch und trifft Entscheidungen erst, wenn er spürt, daß es möglich wird, mit ihnen brauchbare, verunsichernde oder erstaunliche Erkenntnisse über den Zustand der Welt zu vermitteln.“

War da was? fragte Peter Iden in einem Beitrag in der Frankfurter Rundschau, als das Mitbestimmungsmodell am Frankfurter Schauspiel aufgelöst wurde. Acht Jahre lang war Palitzsch dort Direktor und Protagonist eines demokratischen Diskursmodells. All die Kritiker, die Youngsters, die heute meinen, daß es im Theater keine Demokratie gebe, nur weil sie sich etabliert haben oder niemals an konkreten Projekten des politischen Protestes beteiligt waren, kann die Frankfurter Palitzsch-Zeit nur bestätigen, daß es geht, daß Utopie lebbar ist, freilich nur für Momente und wenn man gut, unglaublich gut ist, als Regisseur, als Schauspieler, als Techniker, als soziales Wesen. In Frankfurt gelang Palitzsch ein themenzentrierter Spielplan, waren Neuenfels, Bondy, Grüber, Steckel, Löscher junge Männer und Frauen an seiner Seite, für die das Theater eine politische Utopie war.

Dann wird Palitzsch wieder frei: Pinter, Kroetz, Turrini, Beckett und Shakespeare, und damit kehrt der alte Mann ans Berliner Ensemble zurück. Brechts guter Sohn kehrt zurück, und der andere, der Dunkle, Direktor Wekwerth, muß weichen. Es ist die Zeit der Gesellschaften mit beschränkter Haftung und zu einer solchen wird das BE. Mit Sicherheit hat Palitzsch unterschätzt, welche Erwartungen und welcher Neid auf den Heimkehrer gerichtet waren.

Ich ahnte nichts von dem, als ich mich im Juni 1991 am BE bewarb und Frau Leu mich fragte, ob ich bei Palitzsch, Marquardt, Langhoff, Müller oder Zadek hospitieren wollte. Bei einem richtigen Brecht-Schüler, hatte ich geantwortet. Das ist Herr Palitzsch, sagte Frau Leu, und sechs Wochen später rief er mich an. So hat Peter Palitzsch immer auf Risiko gesetzt: ein Assistent, der noch nie am Theater war, eine Thaisa, die vorher Kleindarstellerin war, Brechts Schwiegersohn, Ecke Schall, und alle warteten, daß der alte Mann scheitern würde, das Feuilleton, die Erben, Einar Schleef, Peter Zadek und der Hausmeister, der schon damals... So ist Palitzschs und Shakespeares „Pericles“ eben nur die Geschichte eines Mannes geworden, der, schuldlos in ein Schicksal geworfen, irgendwann als alter Mann wieder dahin zurückgekehrt, wo alles angefangen hat.

Davon hat Palitzsch sich irgendwann wieder befreit und hat frei inszeniert, Strindbergs „Vater“ in Zürich oder „Onkel Wanja“ in Basel. Mit einer pubertären Leichtigkeit erzählt er Geschichten des Scheiterns, undramatisch und existenziell zugleich, bleibt er der Idee des Theaters treu, rebellisch zu sein gegen seine Verhältnisse und wenn sie noch so determiniert erscheinen, treu auch gegenüber seinen Protagonisten Tanja von Oertzen zum Beispiel und Volker Spengler, das dicke Kind. Und kämpft dagegen an und beugt sich, die Rolle anzunehmen, die Persönlichkeit, die er geworden ist, ein guter Vater oder, wie Neuenfels es einmal formuliert hat: „Eine Autorität, die nicht durch eine Funktion gewonnen wird, die vielmehr etwas in andern auslöst.“

Der Autor ist Intendant des Theaters Nordhausen