Rußlands Retter in der Not räumt Boris Jelzin eine Schonfrist ein

■ Der Verzicht auf seinen Wunschkandidaten Tschernomyrdin kommt de facto einem Verzicht des Präsidenten auf die Macht gleich. In die politische Auseinandersetzung mischt sich der demontierte Kremlchef kaum noch ein

Eigentlich war sich Rußland nicht mehr sicher. Hat das Land noch einen Präsidenten oder nicht? In den schwersten Stunden des Staates seit der gewaltsamen Auflösung des Parlamentes im Oktober 1993 hatte sich der Kremlzar nicht ein einziges Mal dem Volk gezeigt. Erst gestern kehrte der angeschlagene Souverän von seiner Datscha im Grünen in den Moskauer Amtssitz zurück. Buchstäblich fünf vor zwölf konnte Jelzin dem Land einen Retter in der Not präsentieren, der auch ihm noch eine Schonfrist einräumt. Außenminister Jewgeni Primakow übernimmt das Ruder.

Jelzin hat nunmehr genügend Zeit, sich um die Details der Pensionsregelung zu kümmern. In die politische Auseinandersetzung mischt sich der demontierte Kremlchef wohl kaum noch ein. Man weiß es nicht, doch dürfte der designierte Premier Primakow seine Bereitschaft, die undankbare Aufgabe zu übernehmen, mit dergleichen Konditionen verknüpft haben.

Mit dem ersten empfindlichen Schlag, der Abwertung des Rubels im August, verließ Jelzin am Montag, nachdem sein Wunschkandidat Wiktor Tschernomyrdin in der Duma durchgefallen war, endgültig den Ring. Er mußte sich von Tschernomyrdin trennen und auf die Suche nach einem Alternativkandidaten machen. Das kommt de facto dem Verzicht des Präsidenten auf die Macht gleich. Wäre Jelzin körperlich und geistig noch bei Kräften, hätte er sich diese schmachvolle Niederlage nicht zufügen lassen.

Die Ära Jelzin ist zu Ende. Offensichtlich entspricht es auch dem Wunsch des Präsidenten selbst. Mit der Wahl Jewgeni Primakows hat die Staatskrise, die Boris Jelzin durch die Entlassung Premierminister Sergej Kirijenkos auslöste, noch eine recht glimpfliche Wendung genommen. Die politische Klasse reagierte zumindest mit Erleichterung. Allen voran Boris Beresowski, der Finanzmogul und selbsternannte Kopf der „sieben Oligarchen“.

Die Wahl Primakows nannte Beresowskij „eine Entscheidung mit einem Pluszeichen in der heutigen komplizierten Lage des Landes“. Alle politischen Lager stünden hinter ihm, und das sei auch wichtig. Der schleimige Industriebaron läßt nichts anbrennen. Noch vor der offiziellen Inthronisierung des Ministerpräsidenten dient er sich Primakow an.

Mit der Niederlage Tschernomyrdins hat auch die mächtige und zwielichtige russische Oligarchie aus Industrie- und Finanzmagnaten eine schwere Schlappe erlitten. Allen voran Beresowski, der die Entlassung der jungen Reformregierung betrieben hat. Inwieweit die Finanzmogule ihr Imperium unbeschadet durch die Krise retten können, ist unklar. Sie befinden sich in höchster Alarmstufe und haben sich wie Präsident Jelzin in den letzten Tagen geflissentlich aus der Öffentlichkeit fern gehalten.

Ihr Schicksal und das ihrer Imperien hängt davon ab, wen der designierte Premier in seine Regierungsmannschaft holt. Ein voreiliger Schluß wäre es auf jeden Fall, zu meinen, Parteigänger der Kommunisten würden dem Kapital zuleibe rücken.

Die Allianz der Oligarchen zeigt unterdessen in den letzten Tagen deutliche Risse. Was für den einen gut ist, gereicht dem anderen zum Nachteil. Die SBS-Agro- Gruppe Alexander Smolenskis, dessen Bankhaus die russische Zentralbank unter ihre Kuratel gestellt hat, wäre mit Juri Masljukow als Premier besser bedient gewesen. Der Kommunist und ehemalige Chef der sozialistischen Planbehörde „Goskomplan“ hätte seine Aufmerksamkeit der Landwirtschaft und den Regionen zugewendet. Lebenswichtige Infusionen aus dem Staatshaushalt wären der siechenden Agrobank garantiert gewesen.

General a.D. und jetziger Gouverneur der sibirischen Region Krasnojarsk, Alexander Lebed, begrüßte unterdessen die Kandidatur Primakows. Am Vortag hatte sich der Außenseiter und Saubermann noch zu einem Bündnis mit Beresowski bekannt.