Der britische Familienfrieden ist gestört

Die Regierung von Premierminister Tony Blair begibt sich mit bewußt unklaren Vorstößen zur Reform des Parlaments in einen Verfassungsstreit. Andere notwendige Staatsreformen werden zugleich hinausgezögert  ■ Von Dominic Johnson

Berlin (taz) – Die britische Verfassung ist eine kuriose Sache. Da niemand sie je aufgeschrieben hat, gibt es über ihren Inhalt niemals letzte Gewißheit. Alles bleibt in der Familie: Über den Monarchen als Souverän sind Exekutive, Legislative und auch Judikative letztendlich vereint im Palast von Westminster. Und wie in allen guten Familien kommt böses Blut auf, wenn ein Familienmitglied auf die Idee kommt, den eigenen Part für das Ganze zu halten.

Eine solche Ungehörigkeit begeht derzeit die britische Regierung unter Premierminister Tony Blair. Ihre Pläne zur Verfassungsreform bescheren ihr die größten politischen Kontroversen seit ihrem Amtsantritt im Mai 1997. Wie üblich, läßt New Labour nämlich das Ziel ihres Vorgehens im unklaren, während das geforderte Mittel – mehr Handlungsfreiheit für die Regierung – als Selbstzweck daherkommt.

So erfuhr das Oberhaus mit seinen 1.300 Lords und Ladies seit Jahrzehnten nicht mehr so viel Zulauf wie in den letzten beiden Tagen, als es erstmals die Regierungspläne zu seiner Reform debattierte. Die Labour-Regierung will nämlich die Stimmrechte der derzeit 759 erblichen Lords und Ladies abschaffen, eventuell bereits 1999. Übrig bliebe ein Rumpf- Oberhaus aus den 487 ernannten Mitgliedern plus 28 Obersten Richtern und 26 anglikanischen Bischöfen. In einem zweiten Schritt möchte Labour das Oberhaus neu zusammensetzen. Aber wie, weiß die Partei noch nicht. Sie will eine Kommission einsetzen. Von bis zu 15 Jahren Übergangszeit ist derzeit die Rede.

Das erregt Mißtrauen. Denn das Oberhaus ist nicht bloß ein Haufen adliger Hinterwäldler. Es ist im Idealfall eine Mischung von Ältestenrat, wo Altpolitiker auch nach Ende ihrer Zeit als gewählter Abgeordneter am legislativen Prozeß mitwirken, und Expertenrunde, wo von der Regierung berufene verdiente Bürger mitreden. Gerade weil von den 1.300 Mitgliedern nur diejenigen kommen, die sich wirklich interessieren, sind Oberhausdebatten meistens sachlicher und unparteiischer als die im Unterhaus. Immer häufiger fällt dem Oberhaus die Funktion zu, schlampig redigierte Gesetzesentwürfe der Regierungsmehrheit im Unterhaus zu richtigen Texten auszuarbeiten.

Daß die erblichen Sitze, die oft von konservativen Adligen besetzt sind, keine demokratische Legitimität haben, sehen sogar ihre Inhaber ein. Aber kaum jemand begreift, warum der ernannte Teil des Oberhauses für eine unbestimmte Übergangszeit alleine weitermachen soll und die Regierung nicht sagt, was am Schluß dabei herauskommt. Bei der Eröffnung der Oberhausdebatte schaffte es die Führerin der Labour-Fraktion, Baronin Jay, nicht, das zu klären. „Die nächsten Stufen sind schon überlegt worden“, behauptete sie. „Diejenigen, über die wir sofort präzise sein müssen, werden in Kürze verkündet werden.“ So spricht man nicht, wenn man nichts zu verbergen hat.

Der Verdacht blieb, daß Labour einfach die eigene Kontrolle vergrößern und vorerst mit einer abhängigen zweiten Kammer regieren will. Gerade linke Kritiker des britischen Staatswesens fordern aber, daß eine Oberhausreform nicht von einer Reform anderer Institutionen und des Wahlrechts getrennt werden kann. Dazu aber hält sich die Regierung bedeckt.

Das grundsätzliche Problem der britischen Verfassung besteht darin, daß sie nur Briten kennt und keine Parteien. Sie bietet keine formale Handhabe dagegen, daß eine Regierungspartei alle Ecken des Staatswesen selber besetzt, sondern nur das moralische Argument, daß man so etwas nicht tut. Margaret Thatcher hielt sich daran wenig, und Tony Blair ist von ähnlichem Temperament. Dies könnte Labour langfristig genauso zum Verhängnis werden wie zuvor den Konservativen, die unter Thatchers Nachfolger John Major im Korruptionssumpf versanken.

Diese Gefahr deutet sich ausgerechnet in dieser Woche an, in der schon das Oberhaus rebelliert. Eine staatliche Kommission, die 1994 von Major zur Moralisierung des öffentlichen Lebens eingesetzt worden war, legte nämlich am Dienstag einen Bericht zur Reform der Parteienfinanzierung vor, der mehrere für Labour unangenehme Vorschläge enthält. So sollen Wahlkampfausgaben nicht mehr nur wie bisher auf Wahlkreisebene begrenzt werden, sondern auch auf nationaler Ebene. Dies trifft Labour härter als die Konservativen, weil Labour eine mächtigere Parteizentrale hat. Ferner soll die Regierung bei Volksabstimmungen neutral bleiben, was für die von Blair für einen unbestimmten Termin versprochene Euro-Volksabstimmung interessante Perspektiven eröffnet.

Die erste Reaktion der Regierung war ähnlich wie beim Oberhaus: Ja, aber später. Die Regierung sei einer Reform der Parteienfinanzierung „verpflichtet“, behauptete Innenminister Jack Straw, aber entsprechende Gesetzentwürfe könnten frühestens in einem Jahr erstellt werden. Damit werden die Europawahlen und die Wahlen zu den schottischen und walisischen Parlamenten im Jahr 1999 nach dem alten unregulierten System ablaufen.

Es ist schon verwunderlich, daß Blairs Regierung zwar innerhalb von achtzehn Monaten Nordirland befrieden und Schottland und Wales in die Autonomie entlassen konnte, sich aber damit überfordert fühlt, eine Parlamentskammer umzubauen und die Parteienfinanzierung zu regulieren. Das Muster: Was Labour stärkt, geschieht sofort. Was Labour als Partei schadet, bleibt liegen. Dem britischen Staat tut das auf Dauer nicht gut. Aber es gibt ja in Großbritannien keine geschriebene Verfassung, aus der das für jedermann ersichtlich hervorgehen könnte.