Hungern für ein ganz normales Leben

In sieben französischen Städten sind „papierlose“ Immigranten im Hungerstreik – schon seit 72 Tagen kämpfen sie für ihre Legalisierung. Ihre Gesundheit verschlechtert sich, die Regierung bleibt hart  ■ Aus Limeil-Brévannes Dorothea Hahn

„Ohh“, flüstert Damba Soumaré und läßt ein Lächeln über das hagere Gesicht huschen: „moi, ça va!“ Aber seinem Freund, der 72 Tage auf der Matte neben ihm gehungert hat, dem ginge es schlecht. Vor drei Stunden hat ihn ein Krankenwagen abtransportiert. „Ein Lungenproblem“, haben die Ärzte gesagt. Die „von der Regierung“, die jeden Tag vorbeikommen, um das Schlimmste zu verhindern, und bei Gefahr für Leib und Leben Zwangseinweisungen vornehmen dürfen.

Die medizinische Kontrolle der Sans Papiers, der „papierlosen“ Immigranten, ist die einzige Einmischung der Regierung in den Hungerstreik, der im September in sieben französischen Städten begonnen hat. Die Rot-Rosa-Grünen, von denen viele vor zwei Jahren, als die Konservativen regierten, auf die Straße gingen, um für „Papiere für alle“ zu demonstrieren, und eine „unmenschliche Immigrationspolitik“ anzuprangern, hüllen sich heute in Schweigen.

Mit soviel Gleichgültigkeit hätte Damba Soumaré, der das Pech hat, zu jener knappen Hälfte der EinwanderInnen in Frankreich zu gehören, deren Anträge auf Aufenthaltspapiere abgelehnt wurde, nicht gerechnet. „Wir wußten, daß es hart werden würde“, sagte er in dem Flüsterton, der in diesen Tagen im Hochzeitssaal des Rathauses von Limeil-Brévannes im Osten von Paris vorherrscht, „aber niemand hätte geglaubt, daß es so lange dauern könnte.“

Jetzt wiegt Damba Soumaré, der den Hungerstreik mit 66 Kilo begann, noch 55 Kilo. Ist seit 72 Tagen „aus Angst, zusammenzubrechen“, nicht mehr auf die Straße gegangen. Spürt gelegentlich, wie sich „alles im Kopf dreht“. Zeichnet an den langen Nachmittagen, „obwohl ich das gar nicht kann“, naive Porträtbilder in einen Block. Will „natürlich nicht sterben“. Und ist trotzdem bereit, „durchzuhalten. Denn wenn wir jetzt aufhören, wäre das ein Sieg für die Regierung.“

Elf Matratzen mit blauen Schlafsäcken liegen längs der Wände des großen Hochzeitssaals von Limeil-Brévannes am Boden. Neben ihnen sind dutzendweise Eineinhalbliter-Wasserflaschen aufgereiht. Unter jeder Matratze liegt ein medizinisches Bulletin mit den täglichen Daten jedes Streikenden. An den Wänden hängen die Porträts aller Präsidenten der V. Republik. Bloß Jacques Chiracs Nagel ist leer. Sein Konterfei wurde in das Foyer des Rathauses transportiert, wo während des Hungerstreiks die Hochzeiten stattfinden.

Der 36jährige Damba Soumaré kam zwei Jahre nach der Unabhängigkeit in Mauretanien zur Welt. Diese Verspätung kompliziert heute seinen Fall. Dann kam ihm noch ein ethnischer Krieg in die Quere, der seinen einzigen Bruder das Leben kostete. 1990 floh er nach Frankreich.

Wie die rund 100 anderen hungerstreikenden Sans Papiers im Land will Damba Soumaré „normal“ leben. Er will arbeiten, einen „anständigen Lohn“ kriegen, seinen Patron anzeigen können, wenn der ihn nicht bezahlt, krankenversichert sein und eines Tages auch eine Rente bekommen.

Damba Soumaré ist schon seit 1993 ein „Klandestiner“ in Frankreich. Aber gearbeitet hat er trotzdem. Als Tellerwäscher „für französische Patrons“. „Natürlich“ hat er auch die Sozialversicherung bezahlt. Und die Miete in dem staatlichen Wohnheim, wo er ein Zimmer mit einem anderen Afrikaner teilt, schickt er immer noch jeden Monat ab, obwohl er bereits seit März gar nicht mehr in dem Heim wohnt, sondern erst mit einer Kirchenbesetzung im benachbarten Créteil und jetzt mit diesem Hungerstreik außerhäusig kämpft. Bloß die Steuern hat er nicht überwiesen. Genau dieses Versäumnis mußte in diesem Frühjahr zur Begründung seiner Ablehnung herhalten.

„Die Franzosen“, erklärt Damba Soumaré lächelnd die Ungereimtheiten im Umgang mit „Klandestinen“ wie ihm, „sind Profiteure. Ganz egal, ob jemand illegal im Land ist – der Staat bittet ihn zur Kasse.“ Die Männer auf den umliegenden Matratzen, die sich zu schwach zum Reden fühlen, nicken zustimmend.

Als im Frühjahr die Diskussion über einen Hungerstreik aufkam, versuchten viele, das zu verhindern. „Papiere sind nicht die eigene Gesundheit wert“, sagten manche. Denn so ein Hungerstreik, zumal wenn er länger als 50 Tage dauert, hinterläßt Spuren für das ganze Leben. Andere argumentierten, die Regierung habe mit ihrer Teilanerkennung schon genug getan. Schließich müsse sie die rechtsextremen Neigungen in der französischen Bevölkerung berücksichtigen und weitere EinwanderungskandidatInnen in Afrika abschrecken.

Die 100 Männer, die fast alle unverheiratet sind, ließen sich nicht abhalten. Statt eines Selbstmords auf Raten wollten sie mit ihrem Hungerstreik ein Echo auslösen. Sie hofften auf ein Einsehen der Regierung. Und auf eine humanitäre Reaktion.

Doch statt der vieltausendfachen Petitionsbewegung vor zwei Jahren fanden sich dieses Mal nur 150 Intellektuelle zu einem Appell bereit. „Gebt ihnen Papiere“, beschworen sie Premierminister Jospin. Doch der ließ alle, die bei ihm vorsprechen wollten, von Polizisten auf dem Trottoir vor dem Matignon-Palais abfertigen – Danièlle Mitterrand, die Gattin des früheren Staatspräsidenten, genau wie die linken SenatorInnen und die vielen LokalpolitikerInnen, die ihm erklären wollten, daß Papiere für 63.000 ImmigrantInnen, die seit Jahren in Frankreich leben und arbeiten, wahrlich nicht den Zusammenbruch der Wirtschaft auslösen könnten.

Die einzige Geste der rot-rosa- grünen Regierung blieb bis heute das „Angebot“ einer Rückkehrhilfe von umgerechnet 1.500 Mark. Damba Soumaré lächelt bloß darüber. Erstens hat er schon zu oft von Landsleuten gehört, die mit solchen Versprechungen zurückgegangen sind und nie einen Centime bekommen haben. Und zweitens geht das Angebot an seinem Anliegen vorbei. „Wir wollen hier leben“, flüstert er. „Ist das so schwer zu verstehen?“