Körper in sumpfigem Gelände

■ Im neuen Tanzstück "Na Zemlje" von Sasha Waltz bestimmen düstere Atavismen das Bild

Rußland also. Auf das Land bei Moskau sei man gefahren, um auf dem ehemaligen Gut des Theaterreformers Stanislawski mit Tänzern der Moskauer Schule für Dramatische Kunst ein neues Stück zu erarbeiten, lauteten die geheimnisvollen Produktionsmitteilungen. Auf dem Acker und am Ufer des Flusses habe man geprobt, und Sasha Waltz, die seit dem Bekanntwerden ihrer bevorstehenden Intendanz an der Schaubühne gefragt ist wie nie eine Choreographin aus Berlin zuvor, mußte wieder und wieder von ihrer Sehnsucht nach Natur erzählen. Mit ländlicher Idylle aber hat „Na Zemlje“ (dt.: Auf Erden) sowenig zu tun wie die bisherigen Stücke von Sasha Waltz & Guests, wohl aber mit der Begegnung mit dem Nichtverstehbaren. Das Plakat mit den kyrillischen Buchstaben signalisiert, daß hier andere Sinne der Orientierung gefordert sind.

Doch wo die Körper hinter die Sprache zurückfallen, lauert bald ein sumpfiges Gelände, in dem das menschliche Potential der Erkenntnis und der Auseinandersetzung allzuschnell auf ein paar Instinkte zurückgeschraubt wird. Die Erde ergreift von den Tänzern mehr und mehr Besitz, und man hält die Lust am Spielen im Dreck für den eigentlichen Motor des Stücks. Düstere Szenen von der Abwehr des Fremden, von Ausgrenzung und Opferritualen, von Stigmatisierung und grausamer Zurichtung prägen „Na Zemlje“. Menschen werden mit Stöcken getrieben, eingegraben, mit Laub bestreut, mit Glasscherben angesägt, an Schläuchen angeschlossen, elektrifiziert, durchs Wasser geschleift... und geistern, was Wunder, nach diesen tausend Toden als Monster unter den Lebenden umher. Oft scheinen diese Angstphantasien dem Krieg und der Hexenjagd in den Bildern von Goya und der verkehrten Welt von Pieter Brueghel näher als der Gegenwart. Hat die postsozialistische Katastrophenstimmung diese Atavismen angeschwemmt?

Wenn „Na Zemlje“ als Bildertheater auch zu sehr der Faszination des Schreckens und der Grausamkeit verfallen ist, so beeindruckt doch die elementare Energie und emotionale Wucht des Ensembles. Der im Namen „Sasha Waltz & Guests“ versprochenen Offenheit macht das Stück alle Ehre und nimmt Befürchtungen, daß die Entwicklung eines Stils als Markenzeichen allmählich die Kreativität der Choreographin aufsaugen werde, den Wind aus den Segeln.

„Na Zemlje“ ist ein kollektives Wagnis, bei dem wohl alle an Ausdrucksformen gewonnen haben. Von dem baskischen Musiker und Tänzer Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, der an diesem Abend mehrfach die Austreibung des Wilden über sich ergehen lassen muß, stammt das musikalische Konzept. Das Spiel gibt die Impulse vor, und die Musik antwortet dem Sturm der Gefühle und formt seine Energie um. Die Tänzer singen – Volkslieder im Chor und Alexandra Konnikowa als Solistin –, sie spielen Klavier und bedienen Geräuschmaschinen.

Wenn aus dem Drehen der Windmaschine und Fußgetrappel plötzlich die Vorstellung von Reiterheeren und Steppe aufsteigt, wenn die Gruppe den Rhythmus des Flamenco mit Gummistiefeln in den Matsch des naturalistischen Bühnenbildes knallt, dann hat das schon episches Format. Wenn sie mit ihren Stöcken balancieren, den Bühnenacker umgraben, sie wie Sensen und Schwerter schwingen, als Lanzen in den Boden bohren, Fahnen aufstecken und die Hölzer als Knüppel und Krücke nutzen, dann fühlt man sich plötzlich an Historienfilme erinnert wie „Kagemusha“ oder „Andrej Rubljow“. Das ist für Berliner Tanztheater eine ungewohnte Kraft, die allerdings ihr eigenes Ziel noch nicht ganz gefunden zu haben scheint. Katrin Bettina Müller

In den Sophiensælen in Berlin- Mitte am 15.11. und 17. bis 21.11.